Über Leben (German Edition) by Reinhold Messner

Über Leben (German Edition) by Reinhold Messner

Autor:Reinhold Messner [Messner, Reinhold]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
ISBN: 9783492968775
Herausgeber: Piper ebooks
veröffentlicht: 2014-08-31T22:00:00+00:00


36 VERTRAUEN

Ich bin nicht als Einzelgänger geboren, ich bin zum Einzelgänger geworden, zum Solitär: eigenwillig, unbestechlich. Dazu auch Weltbürger, in keiner Weise Patriot. Die allermeisten Erfolge jedoch habe ich Partnern zu verdanken. Zum Beispiel die Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffmaske. Peter Habeler und ich waren ein Paar, eine symbiotische Seilschaft. Wir teilten Risiken, Ungewissheit und Strapazen ganz selbstverständlich. So zeigten wir zuletzt, wie man wissenschaftliche Erkenntnisse ad absurdum führt. Der empirische Weg und die Tatsachen machten uns stark. Sie machten im Rückblick sogar Spaß. Zwischen unserer Hoffungslosigkeit und unserem Übermut aber lag ein langer Weg. Zuletzt ging es auf Knien zum Gipfel.

Nur weil wir am Gipfelgrat unendlich langsam waren – nicht nur die Energie in den Beinen, auch der Wille, die Beurteilungsfähigkeit und Entscheidungsfreude waren uns abhandengekommen –, erschienen uns die letzten hundert Höhenmeter bis zum Ziel eine Ewigkeit weit. Wie eine Dehnung von Raum und Zeit. Die Unendlichkeit wurde damit relativiert. Gewollte Selbstverwirklichung war zum nackten Überlebenwollen geworden. Am Gipfel keinerlei Euphorie, alles war auf ein Minimum reduziert. Demut, nicht Überheblichkeit füllte uns aus. Vielleicht auch Angst. Das Gefühl, ernsthaft bedroht zu sein, blieb bis ins »Tal des Schweigens« lebendig. Unseren gelungenen Versuch – ohne die üblichen Sauerstoffflaschen, ohne den über Satellit durchgegebenen Wetterbericht, ohne Dopingmittel, ohne Schlüsseltechnologie, ohne markierte Piste – schilderte Peter später als Weg zum Sieg, als einsamen Kampf mit sich selbst. Ich empfand ihn als Versuch mit Risiko, zuletzt als Einheit von Idee und Tat.

Wir beide hatten perfekt harmoniert und viel voneinander gelernt. Unser ganz persönlicher Erfahrungszuwachs aber wurde anschließend von Dritten völlig gegenläufig interpretiert: Peters »einsamer Sieg« wurde zum Triumph eines Landes, einer Ideologie – weil er autonom und innerhalb vernünftig angesehener Grenzen das Höchste erreicht hätte. Ich aber widersetzte mich in meiner Autarkie jeder Art von Fremdbestimmung, auch der Anmaßung von Politik und Medien, den »local hero« zu geben. »Ich bin mir meine eigene Heimat, und mein Taschentuch ist meine Fahne«, war meine Antwort auf den Festredner zum Empfang in Südtirol. Damit hatte ich das Vertrauen meiner Landsleute verspielt, der Berechenbarkeit meiner Motive widersprochen. Ich aber bin so gestrickt: Immer wenn Prestige, das ich durch eigene Leistungen erzielte, vermischt wird mit dem Ansehen des Volkes, dem ich angehöre, fühle ich mich unwohl.

Abenteuer, die nicht wiederholbar sind, laufen Gefahr, glorifiziert und damit missbraucht zu werden. Ich aber wollte unabhängig bleiben, meine Individualität verteidigen. Bergabenteuer beruhen auf Eigenständigkeit und Partnerschaft gleichermaßen. Der Wille zum Selbstsein gehört dazu wie die Toleranz dem Partner gegenüber. Das unbedingte Vertrauen zueinander aber, zuerst Grundvoraussetzung für das gemeinsame Tun, ist im Anschluss ständig in Gefahr. Weil Außenstehende und die Medien damit spielen können. Und wir Akteure dünnhäutig sind. Verlorenes Vertrauen aber wird schnell zu Misstrauen, das zum Keil zwischen den stärksten Partnern wird, wenn diese ihre Unabhängigkeit aufgegeben haben.

Du gehst Jahr für Jahr mit jemandem auf Expeditionen und glaubst, ihn zu kennen. Dann, plötzlich, tut er etwas, das »nicht zu ihm passt«. Dabei hat er nur unserer Erwartungshaltung nicht entsprochen. Wir kennen den anderen nie wirklich, und Vertrauen hat auch damit zu tun, dass es so ist.



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