Wilde Freude by Sorj Chalandon

Wilde Freude by Sorj Chalandon

Autor:Sorj Chalandon
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv
veröffentlicht: 2020-03-15T00:00:00+00:00


In der Wohnung angekommen, fiel ich in mich zusammen. Zum ersten Mal seit Beginn meiner Behandlung erbrach ich meinen Morgenkaffee. Mein Bauch krampfte, als wühlten Hände darin herum. Ich konnte nicht mehr atmen. Ein Schmerz spaltete mir den Kopf bis zum Kiefer. Und diese bleierne Müdigkeit raubte mir die Worte. Ich konnte meine Sätze nicht mehr beenden. Mich nicht mehr erinnern an Gesichter, Menschen, Orte, Daten. Ich hatte mein Gedächtnis verloren. Als ich eintrat, fing Assia mich auf. Ich war leichenblass.

»Komm, setz dich, Jeanne!«

Sie schloss mich in die Arme. Nahm mir sanft die Perücke ab. Ich schenkte ihr die letzten Tränen, die mir geblieben waren. Erzählte ihr von dem Banker, dem Kredit, der Gesundheitserklärung. Ich kauerte auf dem Sofa. Sie streichelte mir den Kopf.

»Niemand borgt Krebskranken Geld. Das wusstest du nicht?«

Vorsichtig schüttelte ich den Kopf. Nein, das hatte ich nicht gewusst. Ich war Jeanne Hervineau, eine anständige, fleißige Person. Genauso wie vor der Krankheit. Nichts hatte sich geändert. Was gab diesen Menschen ein Recht über mich? Warum sollte ich mich anders fühlen? Assia liebkoste mich, wie es lange niemand mehr getan hatte. Diese tiefe Rührung in ihrem Blick kannte ich noch nicht. Die Lippen nah an meinem Ohr, summte sie leise, wie man ein Kind beruhigt. Ich hob den Blick. Das Licht war zu hell. Assia stand auf, um es zu löschen. Zündete eine Kerze an. Und setzte sich mit einer Zigarette zwischen den Fingern mir gegenüber in den Sessel.

»Danke fürs Wiederaufbauen, Assia!«

Mehr brachte ich nicht heraus. Sie lächelte.

»Da bist du nicht die Erste.«

Sie streckte sich.

»Das ist hier das Mütterhaus.«

Mir war kalt. Sie legte mir ein Tuch um die Schultern. Wie Brigitte erzählte ich auch ihr von Jules. Dem Kind, das mir aus den Armen gerissen worden war. Wieder holte ich das Foto meines Sohnes heraus. Seit ich es vom Kamin genommen hatte, streichelte ich es fast ununterbrochen. In der Metro, während der Infusionen, am Abend vor dem Einschlafen. Es war zu einem Talisman geworden. Ein hübscher Junge, murmelte Assia. Ja, das war er. Sie schaute zum Fenster, in den bleiernen Himmel, den Regen, der an die Scheiben peitschte. Und dann erzählte Assia, die Zarte, mir endlich etwas von sich.



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