Wie es leuchtet. Roman by Thomas Brussig

Wie es leuchtet. Roman by Thomas Brussig

Autor:Thomas Brussig [Brussig, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104037622
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-08-20T16:00:00+00:00


6

An einem Freitag fuhr Leo Lattke mit Lenas großem Bruder nach Hamburg, zur Weihnachtsfeier seines Magazins. Der Abend begann mit einem Stehempfang in der Redaktion, dann fuhren Busse zum Ort des Geschehens, der bis zuletzt geheimgehalten wurde: Eine restaurierte Lagerhalle des Hamburger Hafens, mit roten Backsteinwänden, die von einer vernieteten Stahlkonstruktion überwölbt waren. Der Zweckbau des industriellen Zeitalters war mit einer Auswahl edler und teurer Gegenwartsstücke ausgestattet: weiß gedeckte Tische, staubfreie, glänzende Weingläser, Kerzenständer. Der Raum war in angenehmes Licht getaucht. Die Kellnerinnen und Kellner servierten in gestärkten Schürzen ein Menü, das der Chef de Cuisine des Nobelhotels Louis C. Jakob eigens für diesen Abend kreiert hatte.

Das Blatt hatte, wie der Herausgeber in seiner Tischrede hervorhob, ein Rekordjahr gefahren. Wenn es nach dem Kaufmann in ihm ginge, könne sich das mit der DDR noch Jahre hinziehen. »Geben wir ruhig zu: Wir sind die Krisengewinnler«, sagte er, um schließlich ohne rechten Zusammenhang anzuschließen: »Trotzdem stellen wir den Abend unter das Motto Auferstanden aus Ruinen.«

Der Herausgeber war ein selten schlechter Redner. Leo Lattke kannte sonst niemanden, dessen unbestrittene, ja leuchtturmhafte öffentliche Bedeutung in solch krassem Mißverhältnis zur rednerischen Unbegabung stand. Warum sollte sich jemand, der sich, wann immer er will, schriftlich an ein Millionenpublikum wenden kann, um die Wirkungen kümmern, die nur ein paar hundert Leute angehn? Leo Lattke war von schlechten Reden fasziniert, so wie manche Menschen von Exkrementen fasziniert sind. Es fesselte ihn ungemein, wenn er erlebte, wie kluge und sogar charismatische Menschen als Redner, zumal vor Massen, versagten. Wenn sie auf ihren Pointen sitzenblieben, über Betonungen stolperten, das Tempo überdrehten oder mit dem Rhythmus fremdelten. Wenn sie sich im Dickicht langer Sätze verirrten und nur mit der Machete wieder herausfanden. Wenn ihnen das richtige Zitat immer wieder entwischte wie ein nasses Stück Seife. Wenn die Redestrecke mit so holprigen Kausalitäten gepflastert war, daß die Zuhörer nicht mehr wußten, wohin die Reise eigentlich geht. Leo Lattke machte sich oft über das Reden Gedanken. Er war selbst kein guter Redner. Trotzdem wollte auch er nachher sprechen.

Lenas großer Bruder nahm das erste Mal an einer Festivität dieser Dimension teil. Als die Busse vor den Lagerhallen hielten, glaubte er zunächst, das Blatt feiere die Auferstehung in Ruinen, um den Etat zu schonen. Die Katakomben kommen billiger als der Große Ballsaal. Leo Lattke jedoch sagte Luxus. Lenas großer Bruder verstand erst allmählich, was das meinte. Der Abend sollte teuer sein, ohne protzig auszusehen. Der Luxus sollte nur den Kennern auffallen, erklärte Leo Lattke – denn das bereite doppelten Genuß.

Der Abend hatte Luxus. Der größte Luxus bestand in den Gästen. Erst dachte Lenas großer Bruder, es wäre die Garderobe. Später vermutete er, es seien die Düfte. Aber es war etwas anderes, das diesen Saal zu einer Klasse für sich machte: Es war das Benehmen, das Benehmen der Männer. Wie sie so über den Tisch motzten, locker waren, sich Sprüche und Repliken zuschnippten, ein wohltemperiertes Auflachen in die Unterhaltung tupften – das hatte Rhythmus, hatte Swing. Es war ein raffiniertes Spiel, das die Männer spielten. Die



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