Was geschah im 20. Jahrhundert? by Sloterdijk Peter

Was geschah im 20. Jahrhundert? by Sloterdijk Peter

Autor:Sloterdijk, Peter [Sloterdijk, Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2016-03-07T16:00:00+00:00


Die permanente Renaissance Die italienische Novelle und die Nachrichten der Moderne

Für Hubert con amore

Unsere Exkursion zu den Quellen des modernen Bewußtseins vom Glück und Unglück der europäischen Menschen soll in jenem fatalen und verheißungsvollen 14. Jahrhundert beginnen, in dem sich die ersten Anzeichen für eine bis heute fortwirkende Veränderung im Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins ankündigten. Von dieser Zeit an mehren sich die Indizien, wonach die Menschen nicht mehr allein einer Naturgeschichte angehören, in der vorgeblich das Immergleiche geschieht. Aber ebensowenig sind sie imstande, nur als Teilnehmer der Geschichte Gottes mit den Menschen zu existieren, die im christlichen Kalender ihr Zeichen aufgerichtet hat. Was hier Konturen annimmt, verweist auf eine dritte Art von Geschichtlichkeit, die man eine vermenschlichte Naturgeschichte nennen könnte – und in welcher es um nicht weniger geht als um die Einbeziehung der Naturgeschichte in die Humangeschichte.

Für diese dritte Gestalt der Geschichte ist offenbar erst im späteren 20. Jahrhundert die Hochkonjunktur angebrochen, von der man nicht sieht, wie sie je enden könnte – denn seit die Menschen in den Industrienationen begreifen, wie sehr sie selber aufgrund ihrer technischen Lebensformen in den Haushalt der Erde und ihrer biosphärischen und atmosphärischen Realitäten eingreifen, ist die Vorstellung von der Klimaverantwortung, ja von der globalen ökologischen Verantwortung der Zivilisationen in aller Munde. Kaum jemand macht sich jedoch bewußt, daß die Entdeckung des Menschen als eines klima-aktiven Wesens – im allerweitesten Sinn des Ausdrucks – mindestens bis in das 14. Jahrhundert zurückreicht. Der Vorgang, den wir die Renaissance nennen, bleibt nur unvollständig begriffen, solange man nicht zur Kenntnis nimmt, in welchem Maß die vielzitierte »Entdeckung der Welt und des Menschen« mit Maßnahmen zu einer expliziten Gestaltung der symbolischen wie der natürlichen Umwelten verbunden war. Tatsächlich gibt es seit dieser Zeit in der europäischen Kultur Ansätze zu dem Bewußtsein einer gemeinsamen Geschichte von Moral und Atmosphäre – und von diesem aufkeimenden Bewußtsein und seinen Spuren in den Dokumenten der Zeit soll die Rede sein.

Als Kronzeugen für den Vorgang, den ich die Entdeckung der Umwelt aus dem Geist der Seuche nenne, möchte ich keinen Geringeren aufrufen als den Dichter und Philosophen Giovanni Boccaccio, 1313-1375, der in seinem 1353 vollendeten Werk Decamerone, alias das Zehntagebuch, die bezeichneten Zusammenhänge mit aller nur möglichen Deutlichkeit umrissen hat. Er wendet sich in diesem Opus, das man aufgrund einer prüden Verblendung für ein frivoles Anekdotenbuch hat halten wollen, an eine weibliche Leserschaft mit dem ausdrücklich formulierten Vorsatz, ihnen Heilung bringen zu wollen von der schlimmsten der Frauenkrankheiten, der Melancholie – die nach der Meinung des Autors aus der Fixierung der Gedanken auf ein unerreichbares Objekt entspringt und gegen die es keine andere Abhilfe gibt als die allmähliche Umlenkung der Ideen auf erheiternde und erreichbare Gegenstände. Für solche Frauen vor allem sind die Erzählungen bestimmt, die Boccaccio die hundert Novellen oder Novelletten nennt – wahlweise auch Fabeln oder Parabeln oder Historien.

Die Rahmenerzählung des Decamerone läßt erkennen, daß Boccaccio mehr im Sinn hatte als eine poetische Gynäkologie. Es geht ihm um die Regeneration einer zerfallenen Gesellschaft durch eine exemplarische Kur, in deren Verlauf



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