Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) by Finnek Tom

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) by Finnek Tom

Autor:Finnek, Tom [Finnek, Tom]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Lübbe (Lübbe Hardcover)
veröffentlicht: 2013-11-21T23:00:00+00:00


4

Obwohl ich tagelang Zeit gehabt hatte, mir über alles Gedanken zu machen und meine wirren und zusammenhangslosen Überlegungen in irgendeine Ordnung zu bringen, war ich weit davon entfernt, einen konkreten Plan zu haben oder eine Strategie zu verfolgen. Noch immer ging in meinem Kopf alles drunter und drüber, und obwohl ich wusste, dass drängende Fragen zu beantworten und wichtige Entscheidungen zu treffen waren, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie diese Antworten aussehen würden. Ich wusste nicht, was ich tun wollte, sondern nur, was ich nicht wollte. Und das stand in krassem Widerspruch zu dem, was alle anderen von mir verlangten. Aus diesem Dilemma sah ich keinen Ausweg. Oder ich schreckte vor dessen drastischen Konsequenzen zurück. Denn eines war mir in den letzten Tagen klar geworden: Nichts von dem, was ich tat, blieb ohne Folgen. Vor dieser Einsicht die Augen zu verschließen wie ein kleines Kind, brachte mich der Lösung keinen Schritt näher.

Bevor ich mich jedoch meiner Zukunft widmen konnte, wollte ich zunächst ein heißes Bad nehmen und den Dreck der vergangenen Tage abwaschen. Ich kam mir unrein und befleckt vor, und das hatte nicht allein mit der schmutzigen Haut, der entzündeten Wunde und den fettigen Haaren zu tun. Mehr noch als die Tatsache, dass ich niedergeschlagen, verhaftet und vor Gericht gestellt worden war, machte mir die Erkenntnis zu schaffen, dass ich für den Tod einer Frau mitverantwortlich, dass ich letzten Endes zum Handlanger eines Mörders geworden war. »Sie haben die Frau auf dem Gewissen«, hatte Eva Booth am Samstag an der Themse gesagt, und das Wissen um die Folgen meiner Handlungsweise quälte mich.

Die Erinnerung an jene Nacht vor drei Wochen war immer noch verschwommen und lückenhaft, doch das Bild der Elizabeth Stride war inzwischen vor meinem inneren Auge wieder aufgetaucht. Wenn ich an Long Liz dachte, sah ich eine verlebt und verhärmt aussehende Frau mit struppigen, bereits angegrauten Haaren. Eine ausgemergelte und – trotz ihres Spitznamens – alles andere als große Frau, die früher einmal hübsch gewesen sein mochte, nun aber von Alkohol und Armut gezeichnet war. Ihre Haut war fahl und faltig, die oberen Schneidezähne waren ihr bereits ausgefallen. Der Anblick ihres zahnlosen Oberbisses hatte mich davon abgehalten, mit ihr zu schlafen – daran glaubte ich mich inzwischen erinnern zu können. Ich hatte ihr den teuren Malzwhisky gegeben, ihrem geifernden Freund die versprochene Pfundnote in die Hand gedrückt und mich dann schleunigst davongemacht. Ich hatte mich vor der zahnlosen Elizabeth ebenso geekelt, wie ich mich nun vor mir selbst ekelte. Vielleicht weil ich mittlerweile wusste, dass ich dem Tod ins Gesicht geschaut hatte.

»Schaff heißes Wasser nach oben, und lass mir eine Wanne ein!«, sagte ich zu Gray, als wir das Crown Hotel über den Hintereingang im Hof betraten. »Und bring mir alle Ausgaben der Times der letzten drei Wochen, die du im Salon oder im Raucherzimmer finden kannst!«

»So lange waren Sie doch gar nicht weg, Boss«, wunderte sich der Junge.

»Und auch die Evening News«, setzte ich hinzu, ohne auf seinen Einwand einzugehen. »Vor allem die Polizeimeldungen.«

»Ay, Sir«, antwortete



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