Vergangenheitsschuld by Schlink Bernhard

Vergangenheitsschuld by Schlink Bernhard

Autor:Schlink, Bernhard [Schlink, Bernhard]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257603903
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-13T00:00:00+00:00


V.

Auch das Bundesverfassungsgericht setzt auf sie. Aber es setzt nicht auf sie allein.

Bei der strafrechtlichen Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit hatte es sich nur mit der Suspendierung, Verlängerung und Aufhebung der Verjährung zu beschäftigen, deren verfassungsrechtlicher Ort zweifelhaft ist. Bei der Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit war es mit dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot konfrontiert. Daß dieses in Art. 103 Abs. 2 GG seinen verfassungsrechtlichen Ort hat, steht außer Zweifel.

Daß der Ort, den es im Recht hat, ein Ort im Verfassungsrecht ist, ist für den inneren Konflikt des Rechts [102] von entscheidender Bedeutung. Erinnerndes Recht ist das Strafrecht, ein vielgestaltiges Restitutions- und Wiedergutmachungsrecht, das Recht des öffentlichen Dienstes, soweit es um entsprechende Positionen und Karrieren geht, und vergessendes Recht ist das Prozeß- und Verfahrensrecht mit seinen Bestimmungen über Verjährung, Bestands- und Rechtskraft. Dieses erinnernde und vergessende Recht ist einfaches Recht, vom Gesetzgeber mit einfacher parlamentarischer Mehrheit mal mehr in die eine und mal mehr in die andere Richtung zu gestalten. Der innere Konflikt des Rechts ist hier als normaler politischer Konflikt auszutragen und zu entscheiden. Mit dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot von Art. 103 Abs. 2 GG ist der innere Konflikt des Rechts an einem zentralen Punkt durch das Recht selbst entschieden; das Recht höherer Ordnung gibt dem Recht niederer Ordnung eine Grenze vor, die der Gesetzgeber mit einfacher parlamentarischer Mehrheit nicht überschreiten darf. Wie stets, wo die freiheitliche, demokratische und rechtsstaatliche Verfassung Grenzen vorgibt, macht auch diese die politisch schwächere Seite gegen die stärkere stark, das Interesse des einzelnen, nicht bestraft zu werden, wenn er sein Verhalten nicht für strafbar hielt und angesichts der Rechtslage auch nicht halten mußte, gegen den Strafwunsch, das Strafbedürfnis der Gesellschaft.

Dieser verfassungsrechtlichen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht mit der Radbruchschen Formel nur wenig entgegenzuhalten, obwohl es, wie angelegentlich auch schon der Bundesgerichtshof, auf eine völkerrechtliche Verstärkung und Konkretisierung des naturrechtlichen Arguments setzt und in der Gerechtigkeit, der das [103] positive Recht als unrichtiges Recht weichen muß, besonders die völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte enthalten sieht. Wenig ist dies, weil die Radbruchsche Formel in doppelter Weise nicht paßt. Sie paßt nicht in die heutige Zeit; immerhin kann die Anerkennung des Naturrechts nicht vorausgesetzt, sondern nur zum Bekenntnis und zur Forderung erhoben werden, und dieses Bekenntnis und diese Forderung werden seit dem Ende der Naturrechtsrenaissance der späten vierziger und fünfziger Jahre keineswegs mehr allgemein geteilt. Sie paßt auch nicht auf die heutigen Fälle; von einem bei ungesühntem Schuß an der Mauer drohenden unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit kann nicht die Rede sein, wenn schließlich die von der Gerechtigkeit geforderte Strafe lediglich in einer geringen, auf Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe besteht.

So findet sich beim Bundesverfassungsgericht neben der Radbruchschen Formel eine fundamentale Relativierung des in Art. 103 Abs. 2 GG verbürgten Rückwirkungsverbots. Zwar gelte das Rückwirkungsverbot absolut. Aber es gelte absolut nur im Normalfall. Dieser sei gegeben, wenn eine Tat unter der Geltung des Grundgesetzes begangen wurde und unter der Geltung des Grundgesetzes auch bestraft werden soll. Dann dürfe sie nicht nach einem Strafgesetz bestraft werden, das zwar zur Zeit der Bestrafung in Geltung ist, aber zur Zeit der Begehung noch nicht in Geltung war.



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