Vergangenheitspolitik by Frei Norbert
Autor:Frei, Norbert
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406636622
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-05-03T16:00:00+00:00
4. Generalvertrag statt Generalamnestie (1951/52)
Knapp unter 1800 lag, nach Angaben der Zentralen Rechtsschutzstelle, im Frühjahr 1951 die „Zahl der bei den Westmächten einsitzenden Deutschen“[1]. Solch ausgesucht umständlicher Terminologie bedienten sich inzwischen keineswegs allein die hauptamtlichen Rechtshelfer, ganz allgemein schwand seit der Hysterie um Landsberg die Bereitschaft, die Kriegsverbrecher auch Kriegsverbrecher zu nennen. Ein Musterbeispiel des Euphemismus lieferte die sozialdemokratische Bundestagsfraktion mit ihrer von Herbert Wehner komponierten Interpellation, die die neue Zählung der ZRS veranlaßte: „Kriegsgefangene Deutsche im Westen“ lautete die reichlich vage Überschrift des ansonsten höchst präzisen Dokuments. Wehners Fragen bezogen sich ausnahmslos auf die von den Westmächten Verurteilten und Angeklagten – ohne daß der unterdessen schon als anrüchig empfundene Begriff auch nur ein einziges Mal fiel[2]. In der Presse tauchte jetzt immer häufiger die Formulierung „sogenannte Kriegsverbrecher“ auf[3], und beim Heidelberger Juristenkreis wuchsen plötzlich Gänsefüßchen um das Wort[4]. Gegen Jahresende 1951 bemerkte die Londoner Times, auch im Bulletin des Bundespresseamts sei der Terminus in Anführungszeichen erschienen[5].
Zusehends beliebtere Unterscheidungen zwischen „politischen“ und „wirklichen Kriegsverbrechern“, zwischen „verurteilten Soldaten“ und „echten Kriminellen“ oder eine Umschreibung wie die von den „Handlungen im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen“ reflektierten zwar auch die Pauschalität des Begriffs, der Täter beziehungsweise Verfehlungen gegen das kodifizierte Kriegsrecht (zum Beispiel die Tötung von Kriegsgefangenen oder Geiseln) in gleicher Weise umfaßte wie die in Nürnberg abgeurteilten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen den Frieden (wobei, außer Heß und Schirach in Spandau, niemand allein wegen dieser vermeintlich abstrakten Verbrechen einsaß) sowie die NS-Verbrechen im engeren Sinne (insbesondere in den Konzentrations- und Vernichtungslagern). Doch war die mangelnde Präzision des Begriffs allenfalls ein zusätzliches und keinesfalls ein ursächliches „Argument“ seiner die Dinge künstlich komplizierenden Kritiker.
Je kleiner die Zahl der inhaftierten Kriegsverbrecher dank der Begnadigungen und sonstiger Entlassungen wurde, desto größer wurde offenbar der Wunsch, mit dem Begriff die Sache selbst zu tilgen, und zwar restlos[6]. Das psychische Bedürfnis, das Thema Kriegsverbrecher ein für allemal abzuschließen, wuchs umgekehrt proportional zu seiner faktischen Bedeutung. Denn verglichen mit den noch etwa 3400 Inhaftierten im Frühjahr 1950 war ihre Zahl zwölf Monate später um fast die Hälfte gesunken, und im Laufe des Jahres 1951 sollte sie weiter kräftig zurückgehen: auf 1258 Personen zum 31. Januar 1952. Nicht ganz 700 dieser Kriegsverbrecher saßen in den Gefängnissen Landsberg, Wittlich und Werl, etwa halb so viele in Frankreich; der Rest verteilte sich vor allem auf die Benelux-Länder, auf Norwegen, Dänemark sowie (mit nunmehr nur noch 46 anstelle von fast 1000 im Frühjahr 1950) auf Jugoslawien[7].
Die Verteidigung beziehungsweise rechtliche Betreuung dieses gesamten Personenkreises war, aller „Kerker“-Propaganda der Apologeten zum Trotz, seit langem kaum anders als optimal zu nennen[8]. Aber richtig war auch, daß Briten und Franzosen – obgleich die Zahl der Inhaftierten in Werl und Wittlich prozentual nicht weniger (nämlich etwa um ein Drittel) zurückgegangen war als in Landsberg[9] – sich bisher zu keinen größeren Begnadigungsaktionen durchgerungen hatten, und richtig war ferner, daß die Dinge in Landsberg gerade wegen McCloys großzügigem Gnadenakt auf absehbare Zeit festgeschrieben zu sein schienen. Das aber hieß, daß auch sechs Jahre nach dem Ende eines im allgemeinen
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