Treibjagd by Kernick Simon

Treibjagd by Kernick Simon

Autor:Kernick, Simon [Kernick, Simon]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Heyne
veröffentlicht: 2015-01-14T05:00:00+00:00


29

Das Zimmer war dunkel. Jess stand am Fußende des Bettes und schaute hinunter auf ihre Schwester.

Casey schlief tief und fest, den Kopf zur Seite gedreht, so wie sie immer einschlief. Ihre blonden Haare wellten sich über ihre Schultern, ihr Mund stand ein kleines bisschen offen, ihr Atem war ein stoßweises leises Keuchen, und sie sah so friedlich aus, dass Jess es nicht übers Herz brachte, sie aufzuwecken.

Es mochte seltsam scheinen, dass Jess, auch wenn sie nicht blutsverwandt waren, Casey so kompromisslos liebte. Aber so war es. Casey war die Einzige, die von ihrer Familie übrig geblieben war. Jess dachte selten an ihre leiblichen Verwandten, und wenn sie es doch tat, krampften sich ihre Eingeweide zusammen, und sie wurde vom blanken Entsetzen gepackt. Manche Erinnerungen vergaß man am besten, egal, was die Therapeuten, mit denen sie in früheren Jahren endlose Sitzungen verbracht hatte, ihr auch erzählen mochten. All ihre Liebe hatte ihrer Adoptivfamilie gegolten. Den Leuten, die sie als ihre wahren Eltern betrachtete. Die sie aufgenommen und sich um sie gekümmert hatten – ein traumatisiertes und verhärmtes junges Mädchen, das seine Unschuld schon vor langer Zeit verloren hatte –, die sie aufgezogen hatten wie ein eigenes Kind und sie eine Liebe erfahren ließen, die sie nie zuvor gekannt hatte.

Und nun waren ihre Eltern tot, und nur sie und Casey waren übrig. Zwei Schwestern gegen die ganze Welt.

Das ganze Haus war totenstill. »Ich werde auf dich aufpassen«, flüsterte sie und widerstand dem Verlangen, die Hand auszustrecken und ihrer Schwester über das Gesicht zu streichen. Auch wenn ihr noch so sehr danach zumute war, so war jetzt nicht der Zeitpunkt für Sentimentalitäten. Die nächsten paar Stunden musste sie Stärke zeigen. Wenn sie hierblieben, würde ihnen irgendwann jemand zu Hilfe kommen. Da war sie sich sicher. Amanda machte den Eindruck, als könne sie mit schwierigen Situationen umgehen, sie strahlte so ein bestimmtes Selbstvertrauen aus – ähnlich wie gute Lehrer oder Politiker im Fernsehen. Sie würde zurückkommen und Hilfe mitbringen.

Auf jeden Fall.

Sie wandte sich vom Bett ab und ging in die Küche. Sie war hungrig und durstig, und es war zwar nichts zum Essen im Kühlschrank, aber sie konnte wenigstens etwas trinken. Sie fand ein Glas, ging zur Spüle und schaute durch das Loch im Fenster hinaus, das sie zuvor hineingeschlagen hatte, während sie das Glas volllaufen ließ.

Und da hörte sie das Bellen.

Jess erstarrte. Amanda hatte ihr erzählt, dass dies das einzige Haus in der Gegend war. Wer also lief um diese Uhrzeit mit seinen Hunden durch den Wald? Es war eindeutig mehr als ein Hund, und sie machten eine Menge Lärm.

Mühsam unterdrückte sie ihre Panik und durchsuchte fieberhaft die Schubladen, bis sie ein großes Küchenmesser fand. Zaghaft nahm sie es in die Hand, und augenblicklich wurde ihr übel. Eine Waffe wie diese in der Hand zu halten brachte die dunkelsten Momente ihres Lebens zurück, und einen Augenblick lang dachte sie, sie würde ohnmächtig werden. Sie ließ diesen Moment vorüberziehen und sagte sich immer wieder, dass sie jetzt tapfer sein müsse – allein schon wegen Casey, aber auch in ihrem eigenen Interesse.



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