Tote Wale by Pálsdóttir Sólveig
Autor:Pálsdóttir, Sólveig [Pálsdóttir, Sólveig]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau Digital
veröffentlicht: 2015-01-13T16:00:00+00:00
18. KAPITEL
Ein überdimensioniertes Bild in Pink stach ihnen in die Augen, als sie an diesem windigen Montag Anfang Oktober aus dem Auto stiegen. Die Frau auf dem Plakat trug einen glänzenden weißen Body mit roter Spitze, der so eng war, dass die Brüste geradezu unter ihrem Schlüsselbein klemmten. Auf dem Kopf trug sie ein weißes Käppi mit rotem Kreuz, das wahrscheinlich an eine Krankenschwester erinnern sollte. Aus welchem Grund auch immer, sie schien es sehr zu genießen, an ihrem Zeigefinger zu lecken.
»Diese Straße wird mit jedem Jahr schäbiger«, bemerkte Særós und hielt nach der richtigen Hausnummer Ausschau. »Hier muss es sein«, sagte sie dann, und so gingen sie einen kleinen Steig hinauf, der an dem Haus mit dem großen pinken Bild im Fenster entlangführte. Sie blieben vor einem kleinen Holzhaus stehen, das zweifellos viel mitgemacht hatte, und klopften an die Tür. Niemand reagierte. Víðir Jón klopfte abermals an, fest und entschlossen. Særós trat unwillkürlich zurück, rechnete damit, Anita Rós anzutreffen, und davor scheute sie sich.
Ein lottriger Junge öffnete die Tür. Særós erkannte ihn sofort. Das war der Angekettete mit der Mütze, Orri, der Freund ihrer Halbschwester. Jetzt allerdings ohne Mütze, in ausgeleiertem, verblichenem T-Shirt und einer weiten roten Hose, die in der Taille von einer Schnur zusammengehalten wurde. Sie hatte ihn auf der Dienststelle nicht befragt, doch selbstverständlich den Bericht gelesen. Zumindest überflogen, der Junge hatte kaum etwas anderes als ja oder nein gesagt.
»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte Víðir und wartete die Antwort gar nicht ab, sondern betrat den schmalen dunklen Flur, und Særós folgte ihm. Einzig eine schwache Wandlampe am Ende des Ganges spendete ein wenig Licht. Orri war offensichtlich über ihren Besuch erschrocken, obwohl er krampfhaft versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Særós warf vom Flur aus einen Blick in zwei kleine Zimmer und in ein winziges Badezimmer. Die Fliesen waren mit grellgrüner Farbe übermalt worden, und eine Lichterkette war um einen Spiegel gewunden. Víðir Jón betrat das Zimmer am Ende des Ganges, das als eine Art Wohnzimmer diente. An der Wand hing ein mit Wild-Ís gekennzeichnetes Plakat mit einem schönen Foto von einem Wal draußen auf dem Meer und zwei weiteren mit Parolen von bekannten ausländischen Tierschutzverbänden darauf. Anita war nirgendwo zu sehen, und Særós atmete auf.
»Wohnst du allein hier, Orri?«, fragte Víðir Jón und setzte sich auf ein arg mitgenommenes uraltes Sofa. Das Holz war schwarz angesprüht worden, und jemand hatte sich die Zeit damit vertrieben, ein Muster daraufzustempeln. Særós nahm ebenfalls Platz und spürte, wie eine Feder unter ihr nachgab.
»Ja …«, er zögerte, »… eigentlich ja.«
»Wie, eigentlich ja?«, fragte Særós scharf. »Die Frage ist nicht allzu kompliziert. Lebst du allein?«
Trotz der klaren Formulierung schien die Antwort für Orri kompliziert zu sein. »Ich lebe allein«, sagte er schließlich, und seine Augen wanderten hin und her.
»Du bist dem Mietvertrag zufolge der registrierte Mieter, und der Besitzer des Hauses heißt Gísli Pétursson.«
»Nein«, korrigierte Orri. »Das ist ein Verein, dem das Haus gehört … Weiß nicht mehr, wie der heißt.« Er nahm einen Klappstuhl, der an der Wand lehnte, stellte ihn auf und setzte sich.
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