Sungs Laden by Kalisa Karin

Sungs Laden by Kalisa Karin

Autor:Kalisa, Karin [Kalisa, Karin]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406681899
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-07-29T16:00:00+00:00


8 Vietnamesisch war Minhs erste Fremdsprache. Schneidereisprache. Mittwochssprache. Tantensprache. Sung hatte mit Mây nie in einer anderen Sprache als Deutsch gesprochen. Mây wollte mit ihrem Sohn nicht in einer anderen Sprache sprechen als mit ihrem Mann. Ihr Mann sprach Deutsch mit seiner Mutter. Warum sollte Minh mit seiner Großmutter Vietnamesisch sprechen? Also sprach man bei den Trầns Deutsch, und einmal in der Woche, mittwochs, Vietnamesisch bei den Lês. Über diese Regelung wurde nie ein Wort verloren, weder ein vietnamesisches noch ein deutsches. Noch in seinem ersten Grundschuljahr dachte Minh, dass Vietnamesisch die Sprache ist, die Frauen sprechen, wenn sie nähen. Mit einem Land auf dem asiatischen Kontinent jedenfalls brachte er diese Sprache lange Zeit nicht in Verbindung, so wenig war davon die Rede gewesen.

Und dann kam Minh eines Tages aus der Schule und fragte nach einem Kulturgut aus Vietnam. Seine Großmutter schleppte die alte Holzpuppe, die seit Jahr und Tag hinter dem Vorhang gelagert hatte, in die Aula und erzählte wer weiß was für eine Geschichte. Kurze Zeit später verkaufte Sung eine Schiffsladung Kegelhüte in seinem Laden, und seine Mutter betrieb eine deutsch-vietnamesische Abendschule. Sie hing ein Poster vom schwimmenden Markttreiben im Delta des Mekong an dieselbe Tafel, von der sein Sohn morgens die Silbentrennung lernte. Unter Sungs fest in Berlin verwurzelten Füßen begann es zu schwanken. Durch alle Verwirrung, durch ein Gestrüpp von Erinnerungen und Gedanken drang er durch zu dieser einen Frage, die alle Welt seiner Mutter schon gestellt hatte. Nur er nicht. Denn er konnte in dem Gesicht seiner Mutter lesen, dass die Antworten, die sie gab, nicht echt waren. Sie blieb den Fragenden etwas schuldig, aber die sahen es nicht. Nur er, Sung, sah es. Er wollte nicht, dass seine Mutter auch ihm etwas schuldig bliebe, aber er wollte auch die echte Antwort nicht hören. Also hatte er nie gefragt: «Mutter, warum sprichst du so gut Deutsch?» Bis ihm diese andere Sprache zu Hilfe kam.

«Tại sao mẹ nói tiếng Đức tốt như thế?» Seine Mutter antwortete ihm, und ihre Antwort dauerte eine ganze Nacht lang. Sie gingen in den Park, sie saßen auf den Stufen eines Denkmals und schoben mit ihren Schuhspitzen die Glasscherben zu kleinen Haufen zusammen. Sie tranken Kaffee in einer Kneipe, die darauf hielt, nicht zu schließen, bevor es hell wurde. Wenn Hiền stockte, stellte Sung eine Frage. Dann sprach sie weiter. Sie blieb ihm nichts schuldig.

Am Ende dieser Nacht wusste Sung, dass er eine Schwester hatte. Eine Schwester, die nicht wusste, dass sie einen Bruder hatte. Er wollte traurig sein aus Mitleid mit seiner Mutter. Aber er war nicht traurig. Im Gegenteil. Er fühlte sich getröstet, denn er war ja gar nicht allein gewesen. Niemals. Er hatte eine Schwester. Immer schon hatte er eine Schwester gehabt. Sie hatte nicht neben ihm am Tisch gesessen und nicht mit ihm um Leckerbissen gestritten, sie hatte ihm nicht die ersten Buchstaben beigebracht und das Schwimmen, sie war nicht im Pausenhof zu ihm gekommen, um schnell ein Butterbrot zu tauschen. Aber sie hätte da sein können, und das änderte alles.



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