So fern wie der Himmel by Lees Julian

So fern wie der Himmel by Lees Julian

Autor:Lees, Julian [Lees, Julian]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Blanvalet Verlag
veröffentlicht: 2010-04-19T22:00:00+00:00


Das Electric Cinema in der Sin-Sun-Straße hatte nun also mit Agrapina Trofimowa eine neue Stummfilmerzählerin. Die Arbeit war nicht besonders schwierig. Sie las einen russischen Text und wurde dabei von einem Organisten begleitet, einem peinlich korrekten Mann, der jedoch nur eine Hand voll Melodien zu kennen schien, um die Stimmung der Filme zu untermalen. Dann lehnte sie sich zurück und beobachtete das Geschehen auf der Leinwand. Etwas Derartiges hatte sie noch nie gesehen - Autos schienen genau auf sie zuzurasen, Menschen hingen an hohen Gebäuden, direkt vor ihren Augen gab es wilde Schießereien, Cowboys auf Pferden jagten Männer mit bemalten Gesichtern - die Bilder erfüllten sie mit ehrfürchtigem Staunen. Während der Vorstellungen begann sich der Kinosaal schon bald mit dichtem Tabakrauch zu füllen, bis schließlich eine graublaue Dunstglocke unter der Decke hing und die Sicht auf die Leinwand trübte. Dann gab es eine kurze Unterbrechung, damit man die Seitentüren öffnen und den Qualm hinaus- und köstliche, frische Luft hereinlassen konnte. Die Zuschauer, ausnahmslos Russen, rauchten unablässig schwarze Zigaretten.

Jeden Abend gab es ein wildes Gerangel um die Plätze, denn dies war das größte und beliebteste der russischen Kinos. Die Japaner hatten ihre eigenen Filmtheater in Nowi Gorod, der Neustadt, und die Koreaner sahen sich ihre Vorstellungen unten am Fluss in Pristan unter freiem Himmel an. Wenn es sich um einen besonders spannenden Film handelte, kommentierten die Zuschauer oft lautstark das Geschehen, manchmal taten sie dies auch in sehr obszöner Art und Weise. Das Ganze gipfelte dann bisweilen darin, dass sie die Leinwand mit Münzen oder irgendwelchem Abfall bewarfen, wann immer es dem Schurken gelang, doch noch die Flucht zu ergreifen. Es gab weder Ränge noch ein Parkett, der lang gestreckte Raum war einfach mit so vielen Bankreihen wie möglich bestückt. Der ganze Kinosaal - die Wände, die Samtvorhänge und die Teppiche - war in einem dunklen Karminrot und Zinnober gehalten. Bei abgedunkeltem Licht war alles bestens, aber während der Pause erwachten einige Zuschauer, geweckt vom hellen Licht, oft verwirrt und benommen aus ihrem Dämmerschlaf und glaubten angesichts des Rauchs und der roten Wände für einen Moment, sie seien direkt in den Schlund der Hölle hinabgefahren.

Agrapina arbeitete seit ungefähr drei Monaten in dem Kino, als ihr auffiel, dass immer weniger Zuschauer in die Vorstellungen kamen. Der Organist erklärte ihr, die Leute hätten Angst. Seit einiger Zeit zogen japanische Matrosen durch die Sin-Sun-Straße. Sie suchten Streit - spuckten Passanten an, rissen ihnen die Hüte vom Kopf, zogen an den Röcken der Damen. Hinzu kam, dass viele ihrer Landsleute keine Arbeit hatten, denn in den zahlreichen Fabriken, die sich in japanischem Besitz befanden, wurden die bisherigen Vorarbeiter nach und nach durch Japaner ersetzt, zudem holte man immer mehr Arbeiter aus Osaka, Kobe und Niigata nach Harbin. Und die Lage wurde noch schlimmer, als in großer Zahl uniformierte japanische Soldaten in der Stadt eintrafen. Sie pöbelten herum und prügelten sich vor den Lagerhäusern am Kai mit den russischen Hafenarbeitern. Schließlich legten die Russen und Chinesen gemeinsam ihre Arbeit nieder und organisierten antijapanische Kundgebungen.

»Was geht hier vor, Rosa?«, fragte Agrapina, als sie die frisch geklebten Plakate neben dem Eingang des Kinos sah.



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