Sie kam aus Mariupol by Natascha Wodin

Sie kam aus Mariupol by Natascha Wodin

Autor:Natascha Wodin [Wodin, Natascha]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644000568
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Als Lidia von zu Hause weggeht, ist meine Mutter acht Jahre alt. Ist ihr der Abschied von ihrer älteren Schwester schwergefallen, wird sie sie vermissen? Wie muss ich mir ihr Leben in jener Zeit vorstellen? Bekommt sie ebenfalls Privatunterricht von ihrer Mutter, oder wird sie von Anfang an zur Schule geschickt? Wird sie genauso strikt gemieden wie Lidia, oder vermag sie trotz ihrer Herkunft Sympathien zu erwecken, weil sie weicher, umgänglicher ist als ihre Schwester? Wo wird sie später studieren, da es in Mariupol keine Universität gibt? Wird sie ebenfalls bei ihren Tanten in Odessa unterschlüpfen, oder wird ihr Bruder Sergej sie vielleicht nach Kiew holen, wo er am Konservatorium ist und einen mächtigen Mäzen hat?

Auf jeden Fall kann ich mir ausrechnen, dass die Jahre ihres Studiums in die schwärzeste Periode der Sowjetunion fallen werden, die Zeit des sogenannten Großen Terrors, in der die Säuberungen ihren Höhepunkt erreichen. Nach Schätzungen von Historikern verschlingt der Leviathan drei bis zwanzig Millionen Menschen oder noch mehr – stark divergierende Zahlen, zwischen denen wieder mal ein Abgrund liegt. Für meine Mutter muss das Studium ein großes Wagnis gewesen sein. Anstatt sich zu verstecken wie andere ihrer Herkunft in jenen Jahren, exponierte sie sich. Ich weiß nicht, wieso gerade sie den Mut dazu aufbrachte, mit Sicherheit weiß ich nur eins: Die ganze Zeit über hat sie Hunger. Bis auf die letzten Jahre in Deutschland ist Hunger die Konstante ihres Lebens. Vielleicht ist es ja unter anderem auch der Hunger, der sie im Krieg in die Hände der deutschen Besatzer treiben wird, die Hoffnung darauf, dass sie in Deutschland mehr zu essen bekommt. Ich erinnere mich an die ängstliche Gier in ihren Augen, wenn sie aß – immer so, als könnte man ihr das Essen im nächsten Augenblick wieder wegnehmen, als täte sie etwas Verbotenes. Sie konnte nicht aufhören, gegen das Verhungern zu essen, aber ihr Körper schien die Nahrung nicht mehr aufzunehmen, im Zustand des Hungers zu verharren. So viel sie auch aß, sie behielt immer diesen mageren, ausgehungerten Kinderkörper.

Lidia darf in Odessa bei Tante Jelena wohnen, ihre Verköstigung teilt sich diese Tante mit der anderen. Frühstück und Abendessen gibt es bei Jelena, zum Mittagessen geht Lidia zu Natalia. Da man in der Sowjetunion eine Aufnahmeprüfung ablegen muss, um an einer Universität angenommen zu werden, geht es jetzt erst einmal darum, dass Lidia überhaupt zur Aufnahmeprüfung zugelassen wird. Ihre einzige Hoffnung ist Jelenas Mann, der Maler ist und nebenbei eine Dozentur an der Uni hat. Er ist zwar mit einer Adeligen verheiratet und gehört selbst zu den «dekadenten Intelligenzlern», wahrscheinlich hat er einen wackeligen Stand in den heiligen Hallen des neuen Bildungssystems, aber irgendwie gelingt es ihm trotzdem, seine Nichte durchzuboxen.

Da der neue Sowjetmensch allseitig gebildet sein soll, wird den Studienbewerbern in allen klassischen Fächern auf den Zahn gefühlt. Das Dilemma für die Professoren besteht darin, dass die Arbeiter- und Bauernkinder, an die das Gros der Studienplätze vergeben werden muss, kaum über die Voraussetzungen verfügen, die schwierigen Prüfungen zu bestehen. Lassen die Professoren jedoch zu



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