selbst bestimmt sterben by Gian Domenico Borasio

selbst bestimmt sterben by Gian Domenico Borasio

Autor:Gian Domenico Borasio
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406668630
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2014-12-20T16:00:00+00:00


Angst vor sozialem Druck auf gefährdete Menschen, vor Verschlechterung der Palliativversorgung und vor Suizidzunahme

Das Argument des «sozialen Drucks» ist sehr ernst zu nehmen. In einer Gesellschaft, in der das Primat des Ökonomischen immer stärker wird, besteht tatsächlich die konkrete Gefahr, dass das Vorhandensein einer gesetzlichen Regelung zur Suizidhilfe alte und kranke Menschen einem sozialen Druck aussetzt, diese Möglichkeit auch bitte schön im Interesse der Gesellschaft wahrzunehmen. Es wäre in der Tat furchtbar, wenn sich diese Menschen eines Tages dafür entschuldigen müssten, dass sie noch am Leben sind und am Leben bleiben möchten. Und es gibt leider aus der Praxis des Schwangerschaftsabbruches bei schwerer Erkrankung oder Behinderung des Kindes durchaus Hinweise auf einen gesellschaftlichen Druck hin zur volkswirtschaftlich opportunen Abtreibung.

Das ist allerdings nicht unsere tägliche Erfahrung in der Sterbebegleitung. Fälle, in denen man die Patienten vor ihren Familien regelrecht schützen muss, gibt es durchaus, aber es handelt sich fast immer um Überfürsorge, nicht um Druck zur Lebensbeendigung. Zudem arbeite ich nun seit über drei Jahren in der Schweiz und habe es noch kein einziges Mal erlebt oder auch nur erzählt bekommen, dass sich ein Palliativpatient aus sozialem Druck heraus zum assistierten Suizid entschieden hätte. Diese Gefahr schiene mir bei einer generellen Freigabe der Suizidassistenz für Hochbetagte eher gegeben zu sein.

Außerdem haben Forschungen bei Patienten am Lebensende ergeben, dass sich ihre Wertvorstellungen hin zum Altruismus verschieben, wodurch sich ihre Lebensqualität erhöht.[9] Dieser Altruismus richtet sich zuallererst auf das eigene soziale Umfeld, sprich die Familie. Und es fällt bei der Betrachtung von konkreten Einzelfällen schwer, den Wunsch, die eigene Familie zu entlasten, als ethisch minderwertig und ablehnungswürdig einzustufen. Dazu eine persönliche Stellungnahme:

Seit über 25 Jahren betreue ich als Arzt Menschen am Ende ihres Lebens und habe das Privileg geschenkt bekommen, Tausende unterschiedlichster Einzelschicksale begleiten zu dürfen. Aufgrund der Fortschritte der modernen Palliativmedizin ist mir vor fast keiner Krankheit am Lebensende bange, einschließlich ALS oder Demenz. Es gibt aber einige wenige Ausnahmen. Eine davon kommt aus meinem ursprünglichen Fachgebiet, der Neurologie, und betrifft eine bestimmte Art bösartiger Hirntumore. Je nachdem, wo genau diese Tumore im Gehirn lokalisiert sind, können sie im Verlauf zu schweren Persönlichkeitsstörungen mit Aggressivitätsausbrüchen führen. Diese Ausbrüche richten sich häufig gegen die engsten Angehörigen, worunter Patienten und Familien extrem leiden. Die Trauerphase der Angehörigen ist durch die angstbesetzten Erinnerungen an die letzte Lebensphase des Verstorbenen deutlich erschwert. Sollte ich an so einem Hirntumor erkranken, so würde ich mir und meiner Familie einen solchen Verlauf unbedingt rechtzeitig ersparen wollen.



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