Die Vermessung der Psychiatrie by Stefan Weinmann

Die Vermessung der Psychiatrie by Stefan Weinmann

Autor:Stefan Weinmann [Weinmann, Stefan]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Psychiatrie, Psychiatriekritik, Deutschland, Gesundheitswesen, Public Health
ISBN: 9783884149492
Herausgeber: Psychiatrie Verlag
veröffentlicht: 2019-03-12T23:00:00+00:00


Ist die Psychiatrie eine Wissenschaft?

Stellt man die große diagnostische Ungenauigkeit in der Psychiatrie in Rechnung, wie kann dann Forschung, die auf unklaren und zweifelhaften diagnostischen Kategorien beruht, überhaupt verlässliche Ergebnisse zeigen?

Je genauer unsere neurobiologischen Methoden werden, desto eher wird deutlich, dass jeder psychische Vorgang und auch jede psychotherapeutische (und selbstverständlich jede medikamentöse) Veränderung ein neurobiologisches Korrelat hat. Ohne Gehirn geht nichts. Aber wann ist etwas krankheitswertig und behandlungsbedürftig? Den im Hirnscanner oder im Labor gefundenen neurobiologischen Korrelaten kann man nicht ansehen, ob sie pathologisch sind oder nicht (HEINZ 2016). Es ist vielmehr die Bewertung der mit ihnen korrelierten Funktionsbeeinträchtigungen, die zur Krankheitsdiagnose führt.

Es wird immer wieder argumentiert, dass trotz fehlenden Wissens um die »pathologischen« neurobiologischen Zeichen eine klare wissenschaftsbasierte Definition psychischer Krankheit erforderlich sei, um den betroffenen Menschen denselben Schutz und dieselben Rechte zu gewähren, auf die alle somatisch erkrankten Menschen auch Anspruch haben. Dies bedeutet, dass medizinisch-psychiatrische Diagnosen unabdingbar seien, um den Betroffenen solidarische Mittel zukommen zu lassen (HEINZ 2015). Dies erscheint logisch. Aber: Was, wenn wir keine klaren Kriterien psychischer Krankheit haben, sodass die Beeinträchtigung und die Störung der sozialen Teilhabe die wesentlichen Kriterien darstellen und damit wiederum sogar die Diagnosestellung eine Frage sozialer Bewertung ist, was eine Zusammenschau gesellschaftlicher Werte und individueller Einschätzungen des Betroffenen und des Diagnostikers (und Therapeuten) darstellt?

Die Psychiatrie und das psychiatrische Handeln bedienen sich und sollen sich wissenschaftlicher Erkenntnisse bedienen. Das Fachgebiet sollte ein Integral verschiedenster methodischer und fachlicher Herangehensweisen sein. Das Primat einer ärztlichen Psychiatrie als Teil der Medizin, soweit sie sich als Lehre von der Diagnostik und Therapie der Erkrankungen des Gehirns betrachtet, ist aber nicht mehr zu rechtfertigen. Eines der großen Missverständnisse in der Psychiatrie ist, dass biologische, (neuro-)psychologische und andere naturwissenschaftlich geprägte und von den Sozialwissenschaften isolierte Forschungen generell (irgendwann) zur Verbesserung der Situation der Patientinnen und Patienten führen würden, dass sie zur Schärfung des Fachgebietes, zur Entstigmatisierung, zur Verbesserung des Verlaufs der »Störungen«, zur »Professionalisierung« des Fachgebietes und zum Anschluss an den Rest der Medizin führen. Die Grundlage der therapeutischen Psychiatrie kann nicht primär medizinische und auch nicht primär psychologische Forschung sein. Ihre mindestens ebenso wichtige Grundlage sind die Sozialwissenschaften.

Das weiterhin herrschende Primat der Medizin zeigt sich jedoch nach wie vor beispielsweise in der Federführung bei Unterbringungen, bei Zwangsbehandlungen und anderen Zwangsmaßnahmen sowie bei gutachterlichen Fragestellungen. Je mehr wir die psychiatrischen Patientinnen und Patienten mit medizinischen Modellen und Behandlungen traktieren, desto größer ist die Gefahr des Reduktionismus. Diese Behauptung schmälert nicht die Leistungen vieler psychiatrisch tätiger Ärzte und Forscher. Vielleicht war es im Verlauf der Geschichte notwendig, dass Mediziner dazu beigetragen haben, Menschen mit auffälligen und Leiden hervorrufenden Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen den Schutz und die Hilfe der Solidargemeinschaft zukommen zu lassen. Vielleicht war es in den letzten Jahrzehnten wichtig, dass die medizinische Psychiatrie im besten Fall verhinderte, dass solche Menschen primär bestraft oder vernachlässigt wurden. Heutzutage jedoch ist Ernüchterung eingetreten, und die Versprechungen der medizinischen Psychiatrie sind kaum eingelöst worden, zumal das, was die Psychiatrie für die psychisch Kranken getan hat, eher selten auf wissenschaftliche Ergebnisse zurückzuführen war.



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