Reportage Armenien by Barbara Denscher

Reportage Armenien by Barbara Denscher

Autor:Barbara Denscher [Denscher, Barbara]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


»Gjumri stellt eine Art Nullpunkt dar«

»Es war um die Mittagszeit, wir saßen gerade beim Esstisch. Plötzlich begann das ganze Zimmer zu schwanken. Mein Mann schrie: ›Das ist ein Erdbeben, wir müssen raus aus dem Haus.‹ Wir packten unsere beiden kleinen Kinder, wollten hinauslaufen, aber in diesem Moment stürzte alles über uns zusammen.«

Auch wenn mittlerweile mehr als zwanzig Jahre vergangen sind, kann Armine nur unter Tränen von der Katastrophe des 7. Dezember 1988 berichten. An jenem Tag wurde der Nordwesten Armeniens von einem schweren Erdbeben erschüttert, das nicht nur Armines Leben, sondern das ganze Land schlagartig veränderte. Fast fünfundzwanzigtausend Menschen kamen ums Leben, Dutzende Siedlungen und vor allem auch Gjumri, damals die zweitgrößte Stadt des Landes, waren großteils dem Erdboden gleichgemacht, mehr als fünfhunderttausend Menschen (und damit fast ein Sechstel der Gesamtbevölkerung) wurden obdachlos.

Armine und ihre Familie kamen relativ glimpflich davon. Sie gehörten zu den rund fünfzehntausend Menschen, die lebend aus den Trümmern geborgen werden konnten. Armine hatte es schlimmer getroffen als ihren Mann und die beiden Kinder: ihre Lunge hatte einen Schaden abbekommen, Becken und Beine waren gebrochen, es dauerte lange, bis sie wieder einigermaßen hergestellt war. »Wir hatten Glück gehabt«, erzählt sie. »Unsere Wohnung befand sich im Zentrum von Gjumri, in einem vierstöckigen Haus. Die Bergungsarbeiten waren dort nicht so schwierig. Die Menschen in den hohen Plattenbauten, weiter draußen, aber hatten meist keine Chance.«

Die schlimmste Erinnerung sei für sie jene an den Tag, an dem sie, nach dem Spitalsaufenthalt in Jerewan, wieder nach Gjumri zurückkehrte: »Die Stadt war nicht wiederzuerkennen. Überall nur Trümmer, alles war kaputt. Auch von unserem Haus, unserer Wohnung, war nichts mehr übrig. Wir hatten alles verloren.«

Am Stadtrand wurden gleich nach dem Erdbeben Notunterkünfte in Containern und Wellblechbaracken eingerichtet – eine dringend notwendige Maßnahme, denn der Winter im Norden Armeniens ist eisig kalt, Temperaturen bis zu minus dreißig Grad sind keine Seltenheit. So wie viele tausend andere Erdbebenopfer bekamen auch Armine und ihre Familie dort eine Bleibe zugewiesen – nur für die erste Zeit, wie es hieß, bis die Häuser wiederaufgebaut seien.

Zwar wurden in den letzten Jahren einige Stadtviertel saniert, dennoch ist der Bedarf noch längst nicht gedeckt. Die Baracken- und Containersiedlungen gibt es daher immer noch. Sie sind das Erste, was einem in Gjumri auffällt, wenn man auf der Schnellstraße vom rund hundertzwanzig Kilometer entfernten Jerewan hierher kommt. Mittlerweile scheinen sich die Menschen damit abgefunden zu haben, dass die ehemaligen Behelfsquartiere zu ihrem ständigen Zuhause wurden. Zwischen den Hütten und Containern haben sie kleine Gärten angelegt, Beete mit Blumen und Gemüse bepflanzt und auf den Dächern Fernsehantennen installiert, auf einer etwas größeren freien Fläche sind Fußballtore aufgestellt, in einigen der Baracken und Container kleine Geschäfte und Handwerksläden eingerichtet. Immer noch leben in der Erdbebenregion an die sechstausend Familien in Notunterkünften.

Armine aber wohnt nicht mehr in Gjumri: »Nach dem Erdbeben hofften wir natürlich, hier, in unserer Heimatstadt, wieder eine Wohnung zu bekommen. Aber von Seiten der zuständigen Behörde teilte man uns mit, dass wir keinen Anspruch darauf hätten, weil es in unserer Familie zu wenig, wie es hieß, erdbebenbedingte Tote oder Schwerverletzte gebe.



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