Ravinia by Corzilius Thilo

Ravinia by Corzilius Thilo

Autor:Corzilius, Thilo [Corzilius, Thilo]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492951548
Herausgeber: Piper Taschenbuch


9. Kapitel, in dem es ein großes Wiedersehen gibt und einige Pläne geschmiedet werden.

Wer ist’s, der den Ratschluss verdunkelt mit Worten

ohne Verstand? …

Ich will dich fragen, lehre mich!

Wo warst du, als ich die Erde gründete?

Sage mir’s, wenn du so klug bist!

Buch Hiob

– Szenenwechsel.

Manchmal scheint das Leben ein Witz zu sein. Besonders, wenn man in der Lage ist, damit zu spielen.

Der Frühling war wärmer geworden als sonst. Es herrschten fast schon sommerliche Temperaturen, was sich selbstverständlich auch in den lauen Nächten abzeichnete. Wolf mochte dieses Wetter. Es machte das Leben leichter, wenn er in der spätesten Nacht nach Hause schlenderte. Außerdem mochte er die Stadt.

Wien.

Er war im Laufe der Jahre bescheiden geworden. Die kleine Wohnung am Burgring genügte seinen Ansprüchen völlig. Es war gemütlich dort, er hatte alles, was er brauchte – gerade genug Platz für ein Klavier, eines mit Dämpfern, um die Nachbarn nicht allzu sehr zu belästigen –, und außerdem wohnte er mitten in einer der verrücktesten Städte der Welt. In der Welthauptstadt der Musik. Zumindest hatte diese Aussage für ihn lange Zeit Bestand gehabt, bis er den Jazz für sich entdeckt hatte. Es war nicht etwa so, dass er der Klassik oder später der Romantik völlig abgeschworen hatte, aber der Jazz war es gewesen, der sich über die althergebrachten Systeme hinweggesetzt hatte und dennoch in der Lage gewesen war, einen Siegeszug um die Welt anzutreten. Mit Freuden dachte er an die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts zurück, als die Menschen in Europa sich hatten fallen lassen. Sie hatten sich fallen lassen in die Arme der Jazzmusik, hatten ihre von der Wirklichkeit betäubten Körper im Takt von Chicago- und Swing-Jazz bewegt. Ein Mal, ein einziges Mal hatte es die Musik geschafft, sich über alle gesellschaftlichen Stände und Konventionen hinwegzusetzen.

Sicherlich, die Amerikaner und die Briten mochten auf die Liverpooler Szene der Fünfziger- und Sechzigerjahre verweisen, mochten sich in den Schatten der revolutionären Stimmungen sonnen und mit zerspielten Fingern auf Woodstock und seine großen Gestalten zeigen.

Aber die Skepsis war in jener Zeit nie völlig aus der Welt geschafft worden. Die ältere Generation nahm es nicht einmal als kulturellen Bestandteil der Gesellschaft wahr, erkannte keinerlei Musik in den Tönen des Gitarrenspiels eines John Lennon oder eines Paul Simon. Die folgenden Generationen behielten zwar eine Grundidee von Popmusik bei, aber erfanden schon bald Computer und somit den Anfang vom Niedergang des Handwerks der Musik. Außerdem taten sie so, als hätten sie ihre vom Sound der Sechziger mitgerissenen Eltern nie wirklich kennengelernt. Er war ihnen einfach fremd.

Wolf schüttelte im Gehen den Kopf.

Nein, er war sich sicher, dass die Zwanzigerjahre die einzige Zeit gewesen waren, die das Potenzial gehabt hatte, die Menschen musikalisch bis ins tiefste Innere zu bewegen. Alle Menschen, ohne Ausnahme. Doch dann war die Welt in den Flammen der Grausamkeit untergegangen, und das Feuer hatte den Jazz davongespült. Hatte ihn in die Ecke gedrängt, wo er nun ein Schattendasein ertrug, ähnlich einer vom Aussterben bedrohten Tierart.

Er schlenderte über den Petersplatz und musste erneut daran denken, dass es eigentlich schön war, hier zu sein.



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