Chaos by Mitchell David

Chaos by Mitchell David

Autor:Mitchell, David [Mitchell, David]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-11-05T16:00:00+00:00


Jerome kocht Tee. Er bewegt sich mit der Präzision eines Butlers. Rudi kommt mal wieder zu spät. Eine Dreiviertelstunde ist Durchschnitt für ihn. Es ist ein schöner Sommertag und Mittagszeit. Die Straßen und die Parks der Wasiljewskij-Insel schimmern in der Sonne, als lägen sie unter Wasser.

«Wonach riecht der Tee?»

Jerome überlegt kurz. «Ich kenne das russische Wort nicht. Auf Englisch heißt es ‹bergamot›. Es ist die Schale einer Zitrusfrucht.»

Ich sage nur: «Aha. Hübsche Teetasse.»

Jerome gibt mir eine Tasse mit Untertasse und setzt sich. Er spricht fließend Russisch, aber ich weiß nie, was ich mit ihm reden soll. «Dieses Porzellan ist eines der letzten Luxusgüter, die ich noch habe», sagt er. «Echtes Wedgwood. Es ist bestimmt viel wert, aber da eure Kultur den Bach runtergegangen ist, würde ich wahrscheinlich nicht einmal eine Dose Thunfisch dafür kriegen. Nicht fallen lassen.»

«Ich habe noch nie etwas Schönes kaputt gemacht», erkläre ich ihm.

«Das glaube ich dir gern.» Jerome steht wieder auf. «Da unser neureicher Robert de Niro etwas Besseres vorhat, erlaubst du mir sicher, dir eine Privatvorführung meiner Arbeit zu geben.» Er geht ins Nebenzimmer, das ihm als Atelier dient, und ich höre, wie etwas über den Holzfußboden geschoben wird. In dem kleinen Park bei der Andreas-Kathedrale badet ein Kampferbaum in der Sonne. Am Anglijaskaja-Ufer, auf der anderen Seite der Leutnant-Schmidt-Brücke, wird ein neues Holiday Inn gebaut. Heute ist Heldentag, und die Gerüste sind leer. Ich höre, wie der Motor eines Sportwagens aufheult, und dann folgt ein abruptes Bremsenquietschen.

«Ah», ruft Jerome. «Das hört sich ganz nach Rudi an.»

Jeromes spartanisch eingerichtete Wohnung liegt in einem recht hübschen Teil der Stadt. Natürlich ist sie nicht so schön gelegen wie meine. Wenn es stickig ist und der Wind von Norden bläst, riecht man die Chemiefabrik, aber ansonsten ist es gar nicht so übel. Das Atelier eingerechnet, ist sie größer als meine Wohnung – obwohl er nie jemanden in das Atelier hineinlässt. Das dominierende Möbel im Wohnzimmer ist die größte Hausbar, die ich je gesehen habe. Sie sprengt das Zimmer wie ein Domaltar eine Landkapelle. Angeblich handelt es sich um ein Geschenk Leonid Breschnews. Jerome ist ordentlicher als jede Frau. Wobei Jerome, glaube ich, noch nie eine Frau hatte, weder hier noch sonst wo. Ich wüsste zu gern, ob alle Engländer so penibel sind oder nur die englischen Schwulen. Jerome war Spion im Kalten Krieg. Früher lehrte er Kunstgeschichte in Cambridge. Da Moskau ihm vor sechs oder sieben Jahren die Kriegsrente gestrichen hat und er in Großbritannien wegen Landesverrat gesucht wird, ist er jetzt erledigt. Er spricht immer davon, seine Memoiren zu schreiben, aber Exspione, die ihre Geschichte verscherbeln, gibt es heutzutage wie Sand am Meer. Sein einziges Talent, das sich in bare Münze umwandeln lässt, ist das Kopieren von Meisterwerken. Deswegen ist er Mitglied unseres Zirkels. Ich entdecke eine glänzende kastanienbraune Fliegerjacke, die unmöglich dem großen spindeldürren Jerome gehören kann. Ich brauche eine Zigarette und zünde mir eine an. Da es keinen Aschenbecher gibt, nehme ich eine Untertasse. Irgendwo ganz in der Nähe spielt jemand Klavier.

Jerome kommt zurück, enthüllt das Bild und mokiert sich über die Zigarette.



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