Peter Hoeg by Fräulein Smillas Gespür für Schnee

Peter Hoeg by Fräulein Smillas Gespür für Schnee

Autor:Fräulein Smillas Gespür für Schnee [Schnee, Fräulein Smillas Gespür für]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2011-11-03T23:00:00+00:00


5

Die Rippen sind die geschlossenen Ellipsenbögen der Planeten, ihren Brennpunkt haben sie im Sternum, dem Brustbein, dem weißen Zentrum der Fotografie. Die Lungenflügel sind die gräulichen Schatten der Milchstraße vor dem schwarzen Bleischirm des Himmelsraumes. Die dunkle Kontur des Herzens ist die Aschenwolke der ausgebrannten Sonne. Die nebligen Hyperbeln der Eingeweide sind die losgerissenen Asteroiden, die Vagabunden des Raumes, der zufällige kosmische Staub.

Wir stehen in Moritz' Sprechzimmer vor dem Lichtschirm, an dem drei Röntgenbilder aufgehängt sind. In der technischen Reduktion der Photonfotografie wird deutlicher denn je zuvor, daß der Mensch ein Universum ist, ein von einer anderen Galaxie aus gesehenes Sonnensystem. Und doch, dieser Mensch ist tot. Im Permafrost von Holsteinsborg hat ihm jemand mit einem Preßluftbohrer ein Grab gegraben, Steine darauf gelegt und Zement darüber gegossen, um die Polarfüchse abzuhalten.

»Marius Høeg, gestorben an Botulismus. Auf dem Barrengletscher, Gela Alta, August 1991.«

Moritz, der Gerichtsmediziner Lagermann und ich stehen vor dem Schirm. In einem Korbsessel sitzt Benja und lutscht am Daumen.

Der Fußboden ist aus gelbem Marmor, die Wände sind mit einem hellbraunen Gewebe verkleidet. Der Raum hat Korbmöbel und eine Untersuchungsliege in lackiertem Avocadogrün mit einem Bezug aus Ochsenleder in Naturfarbe. An der Wand hängt ein Original von Dali. Selbst der Röntgenapparat sieht aus, als fühle er sich in diesem Versuch, die Spitzentechnologie gemütlich zu machen, wohl.

Hier verdient Moritz normalerweise einen Teil des Geldes, das dazu beiträgt, den Spätnachmittag seines Lebens zu vergolden, im Moment aber arbeitet er gratis. Er betrachtet die Röntgenaufnahmen, die Lagermann gesetzwidrig unter Übertretung von sechs Paragraphen aus dem Archiv des Gerichtsmedizinischen Instituts hergebracht hat.

»Von der Expedition 1966 fehlt der Bericht. Einfach herausgenommen worden. Verdammt noch mal.«

Ich habe Moritz erzählt, daß man nach mir fahndet und ich nicht im Sinn habe, mich an die Polizei zu wenden. Er verabscheut Gesetzwidrigkeiten, doch er senkt den Kopf und fügt sich, denn mit oder ohne Einverständnis der Polizei ist es immer noch besser, daß ich hier bin und nicht weg.

Ich habe ihm erzählt, daß ich Besuch von einem Bekannten bekomme und wir seine Lichttafel in der Klinik brauchen. Seine Klinik ist sein Allerheiligstes, auf einer Ebene mit seinen Investitionen und seinen Konten in der Schweiz, doch er fügt sich.

Ich habe gesagt, daß ich nicht darüber reden will, worum es sich bei der Sache handelt. Er senkt den Kopf und fügt sich. Er versucht, seine Schuld bei mir abzutragen. Sie ist dreißig Jahre alt und bodenlos.

Jetzt, als Lagermann gekommen ist, ausgepackt und die Bilder mit kleinen Klammern festgeklemmt hat, geht die Tür doch auf, und Moritz kommt gekrümmt herein.

So, wie er da vor uns steht, ist er drei Menschen in einem.

Er ist mein Vater, der meine Mutter noch immer liebt, und vielleicht auch mich, und er ist krank vor Sorge, die er nicht beherrschen kann.

Er ist der große Arzt und Dr. med. und der internationale Injektionsstar, den man nie außen vor gehalten und der immer vor allen anderen Bescheid gewußt hat.«

Und er ist der kleine Junge, den man vor die Tür gesetzt hat, hinter der etwas vor sich geht, an dem er brennend gern teilhaben möchte.



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