Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten by Tad Williams

Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten by Tad Williams

Autor:Tad Williams [Williams, Tad]
Die sprache: deu
Format: epub


> Er fühlte sein Herz schneller schlagen. Der Sandsturm, der kurz über die rote Wüste gefegt war, ließ nach, und durch das abflauende Gestöber sah er den großen, kompakten Umriß des Tempels.

Er war riesig und eigenartig gedrungen, eine große Säulenfront, ein gewaltiges Grinsen im weiten toten Gesicht der Wüste. Osiris selbst hatte ihn so angelegt, und anscheinend sagte er dem Andern zu. Dies war das zehnte Mal, daß er dort hinkam, und der Tempel war unverändert geblieben.

Sein große Barke trieb langsam an den Anlegeplatz. Ganz in wallendes Weiß gewandete Gestalten, Masken aus weißem Musselin über die Gesichter gezogen, fingen das Tau auf, das der Kapitän ihnen zuwarf, und zogen das Schiff ans Ufer. Zwei Reihen genauso gesichtsloser Musikanten säumten plötzlich Harfen zupfend und Flöten spielend die Straße zu beiden Seiten.

Osiris winkte. Ein Dutzend muskulöser nubischer Sklaven erschien, nackt bis auf den Lendenschurz und dunkel wie Weinbeerenhaut. Obwohl sie in der Wüstenhitze ohnehin schon schwitzten, bückten sie sich schweigend, hoben die goldene Sänfte des Gottes hoch und trugen sie den Kai hinunter zur Tempelstraße.

Er schloß die Augen und ließ sich von dem sanften Wiegen noch tiefer in seine kontemplative Stimmung befördern. Er hatte mehrere Fragen, aber er wußte nicht, wie viele er würde stellen können, deshalb mußte er im voraus entscheiden, welche die wichtigsten waren. Die dienstbaren Musikanten spielten, während er vorbeizog. Dazu sangen sie auch, ein leises Hochtief-Gemurmel, das den Ruhm der Neunheit und besonders deren Oberherrn pries.

Er öffnete die Augen. Der wuchtige Tempel schien bei seinem Näherkommen aus der Wüste emporzusteigen und sich zu beiden Seiten bis an den Horizont auszudehnen. Er konnte geradezu die Nähe seines Bewohners spüren … seines Gefangenen. War es bloß die Heftigkeit der Erwartung und die Vertrautheit der gewohnten Fortbewegung, oder konnte sich der Andere tatsächlich durch die Mauern des neuen Mechanismus hindurch fühlbar machen, die eigentlich undurchdringlich sein sollten? Der Gedanke behagte Osiris gar nicht.

Die Sänfte bewegte sich langsam die Rampe hinauf, hoch und höher, bis selbst der große Fluß nur noch ein schmutzig brauner Faden zu sein schien. Die Nubier, die ihn trugen, stöhnten leise – ein kleines Detail, aber Osiris war ein Meister der Detailgenauigkeit und hatte an diesen winzigen Zeichen der Authentizität seinen Spaß. Sie waren natürlich nur Replikanten und trugen in Wirklichkeit gar nichts. Jedenfalls hätten sie von sich aus so wenig gestöhnt, wie sie darum gebeten hätten, in eine andere Simulation versetzt zu werden.

Die Sklaven beförderten ihn durch das riesige Tor in den kühlen Schatten der Vorhalle, eines von hohen Säulen gesäumten Hypostylons. Alles war weiß gestrichen und mit Zaubersprüchen beschriftet, die den Bewohner des Tempels beruhigen und bezähmen sollten. Eine Gestalt lag vor ihm auf dem Bauch und blickte nicht einmal auf, als die Einzugsmusik des Gottes einen fiebrigen Höhepunkt erreichte und dann verstummte. Osiris lächelte. Der Hohepriester war ein richtiger Mensch – ein Bürger, wie der kuriose Ausdruck lautete. Der Gott hatte ihn sehr sorgfältig ausgewählt, aber nicht wegen seiner schauspielerischen Fähigkeiten, und deshalb sah es Osiris mit Wohlgefallen, daß er sich wenigstens ein paar Verhaltensmaßregeln eingeprägt hatte.



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