Olga (German Edition) by Bernhard Schlink

Olga (German Edition) by Bernhard Schlink

Autor:Bernhard Schlink [Schlink, Bernhard]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783257608762
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 2018-01-11T23:00:00+00:00


12

Nach ein paar Semestern wechselte ich in eine andere Stadt an eine andere Universität. Ich wechselte auch das Fach; nach Theologie und Medizin entschied ich mich für Philosophie.

Meine Eltern sahen das angesichts der fehlenden beruf‌lichen Perspektive mit Sorge, unterstützten mich aber. Bei vier Kindern reichte die Unterstützung allerdings nicht weit, und so kellnerte ich in einem Gasthaus in der dörf‌lichen Vorstadt, in der ich auch wohnte. Ich mochte die Gäste, die den kellnernden Studenten mit gutmütiger Verwunderung und freundlichem Trinkgeld bedachten, und ich freute mich an meiner Fähigkeit, mehr und mehr Teller und Gläser zu balancieren. Manchmal gab es einen Versuch, die Zeche zu prellen, einen lauten Streit, eine Schlägerei, einen Besuch der Polizei. Das Aufregendste, das ich als Kellner erlebte, war der Angriff eines Mannes auf den Liebhaber seiner Frau mit einem Messer, bei dem Blut floss und nach dem das Gasthaus einen Tag lang geschlossen werden musste. Wochen später saßen Angreifer und Angegriffener zusammen beim Bier; die Frau hatte mit keinem der beiden mehr zu tun haben wollen. Ich kellnerte an drei Abenden der Woche, und damit und dem Studium und dem Orchester war mein Leben voll.

Ich besuchte Olga an ihrem Geburtstag und auch sonst alle zwei, drei Monate. Die Bahnfahrten zwischen Universitäts- und Heimatstadt dauerten lange, und hier wollten viele meine Zeit, die Eltern, alte Freunde und Freundinnen, das Quartett, in dem ich viele Jahre lang Flöte gespielt hatte. Aber ich achtete darauf, dass Olga und ich einen Nachmittag und Abend für uns hatten. Manchmal unternahmen wir etwas zusammen; Olga blieb rüstig und neugierig. Manchmal verbrachten wir den Nachmittag bei ihr, bis ich sie abends in ein Restaurant ausführte. Im Winter saßen wir uns im Wohn- und Esszimmer in den Ecken eines Sofas gegenüber, unter einem Aquarell mit Kiefern und See und Schilf, das sie beim Trödel gefunden hatte und das sie an Pommern erinnerte. Im Sommer saßen wir auf dem Balkon, auf dem gerade zwei Stühle Platz hatten. Auf dem Güterbahnhof rumpelten Waggons und pfiffen Lokomotiven, der kleine Garten duf‌tete und lockte die Bienen an. Ich fand’s idyllisch, aber bei meinem letzten Besuch war Olga mit dem Blick nicht mehr zufrieden. Der Wasserturm war gesprengt worden.

Wenn ich mich verabschiedete, gab sie mir immer etwas mit, einen Marmorkuchen mit Schokoladenüberzug, den sie gebacken, Marmelade, die sie gekocht, oder Apfelschnitze, die sie getrocknet hatte. Das rührte mich, und jeder Abschied war mir schwer. So beweglich und kräf‌tig Olga war – sie ging auf neunzig zu, sie konnte stürzen oder das Herz konnte aussetzen oder das Gehirn versagen, und jeder Abschied konnte der letzte sein. Wir umarmten uns bei der Begrüßung und beim Abschied nicht; es war nicht üblich. Sie strich mir über den Kopf, wie sie mir als Kind über den Kopf gestrichen hatte. Sie nannte mich auch noch so: Kind.



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