Untenrum frei by Margarete Stokowski

Untenrum frei by Margarete Stokowski

Autor:Margarete Stokowski [Stokowski, Margarete]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644056114
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2016-08-31T22:00:00+00:00


Das Bedürfnis, bitte nicht über Geschlechterdifferenzen zu sprechen, habe ich mit achtzehn, neunzehn Jahren am häufigsten im Physik-Leistungskurs. Während wir im Mathe-Leistungskurs ähnlich viele Mädchen wie Jungs sind, bin ich die Einzige in unserem Jahrgang, die sich für Physik entschieden hat.

Auf meinem Schreibtisch steht damals ein kleiner Leuchtturm mit einer Möwe, die nur mit der Schnabelspitze oben auf dem Turm aufliegt und sich mit ihren ausgestreckten Flügeln im Gleichgewicht hält. Man kann sie auch abnehmen und auf dem Finger balancieren. Es ist ein typisches kleines Plastikding aus einem Tourishop an der Nordsee, aber eines, das eine große Magie auf mich ausübt. Ich habe mir die Möwe mit acht Jahren von meinem Taschengeld gekauft, mein Vater sagte: «Das ist Physik!» – und ich dachte, hmm, interessant.

Spätestens, seit ich mit zwölf die Biographie von Marie Curie gelesen habe, habe ich fest vor, später Physikerin zu werden. Neben dem, was im Unterricht passiert, lese ich Bücher über Relativitätstheorie und Quantenphysik und rechne freiwillig Aufgaben durch. Ich könnte den ganzen Tag Gleichungen lösen, so befriedigend finde ich das.

In den Physikstunden sitzen die Jungs zusammen an Dreiertischen; ich sitze allein an einem Tisch dahinter und will hauptsächlich meine Ruhe haben. Einmal höre ich, wie mich einer von ihnen eine «linke Zecke» nennt. Ich halte das für ein Kompliment von jemandem, der im Polohemd mit hochgeklapptem Kragen rumläuft, bin aber auch froh, nicht mehr als nötig mit den Jungs zu tun zu haben.

Der Physiklehrer ist ein lustiger Mann, ich mag ihn. Einmal rechnet er nach einer Klausur mit uns die Aufgaben noch mal durch, bevor er uns die Arbeiten wieder austeilt. Er schreibt die Gleichung an die Tafel, unterstreicht die Lösung doppelt und dreht sich um. «Das hatte keiner von Ihnen raus», sagt er, und dann grinst er: «Keiner – aber eine!» Alle drehen sich zu mir. Sie nun wieder. Einerseits finde ich diese Art von Sonderstatus charmant; aber ich habe andererseits auch das Gefühl, der einzige Weg, mich für meine Anwesenheit in diesem Kurs zu rechtfertigen, ist, die besten Noten zu haben. Dass ich mich rechtfertigen muss, steht für mich außer Frage. Ich denke, wenn ich scheitere, dann ist es irgendwie der Beweis, dass Mädchen es doch nicht können.

Kurz vor dem Abi bin ich zwar immer noch überzeugt, danach Physik studieren zu wollen, aber je konkreter die Vorstellung wird, desto mehr Zweifel kommen mir. Ich überlege, Physik mit Philosophie zu kombinieren, weil ich den Philosophieunterricht fast genauso mag, mit dem Unterschied, dass ich mich da immer viel unwissender fühle. Unsere Religions- und Philosophielehrerin ist einer der faszinierendsten Menschen, die ich je getroffen habe. Eine kleine Frau mit grauen Haaren, stets in zu großen Männerhemden, immer ein paar Bücher oder eine Zeitung unterm Arm, immer die Stirn in Falten. Sie kann ihre Stirn auf eine Art bewegen, dass man meint, dahinter zu sehen, wie sich Gedanken durch ihr Hirn schieben. Sie gibt uns Aufgaben wie: «Lauft mal auf dem Hof rum und überlegt euch den Unterschied zwischen Unendlichkeit und Ewigkeit.» Oder: «Malt auf, was Zeit für euch ist.



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