Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) by Joachim Gauck

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) by Joachim Gauck

Autor:Joachim Gauck [Gauck, Joachim]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: E-Books der Verlagsgruppe Random House GmbH


Erinnern an zwei Diktaturen

Zum Gedenken an die Opfer

des Nationalsozialismus

Gedenkveranstaltung des Hessischen Landtags, Wiesbaden, 27. Januar 200544

Herr Präsident des Landtags, Herr Ministerpräsident,

verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Mein Nachdenken und meine Begegnung mit Ihnen hier in diesem hohen Haus stehen unter dem Thema »Ja – erinnern«.

Auschwitz, unsere zentrale Metapher für das Grauen, das Menschen über andere Menschen bringen, Auschwitz, so lese ich, stand verzeichnet in den Fahrplänen der Deutschen Reichsbahn. Es war kein Ort in irgendeinem östlichen Nirgendwo, sondern eine Stadt, die nach der Besetzung Polens dem Deutschen Reich zugeschlagen worden war. Eine Stadt, in die jene verfrachtet wurden, die nach der Würde auch noch ihr Leben verlieren sollten. Kein Grund dafür, nirgends. Aber das Töten wird nun von diesem Ort aus in der Geschichte der organisierten Menschheit in eine neue Dimension eintreten.

Im September 1941 werden in einem »Versuch« neunhundert sowjetische Kriegsgefangene und kranke Häftlinge mit Zyklon B getötet. Als drei Jahre und gut vier Monate später die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die sowjetische Armee erfolgt, werden 1,1 Millionen Menschen umgekommen sein – in den Gaskammern, durch Hunger, Krankheit oder Misshandlungen. Ihre Leichen wurden verbrannt, ihre Asche zerstreut.

Die übergroße Mehrheit der Getöteten waren Juden. Dazu kamen hundertvierzigtausend Polen – wir vergessen sie leicht als Opfergruppe bei unseren Feiern zum Gedenken an die Opfer des NS-Regimes. Dann Sinti und Roma, die als Zigeuner verfolgt wurden. Nicht zu vergessen die sowjetischen Soldaten und Kommissare.

Viele haben gesagt, die einzig angemessene Reaktion angesichts dieses unvorstellbaren Mordens sei Schweigen. Als Nachkriegskind muss ich ehrlicherweise sagen: Meine Generation erinnert sich mehr an das Schweigen als an das Erzählen. An die Schweigestrategien, an die Schweigespiralen, an die selektive Erinnerung in unseren Familientraditionen. Wir sehen: Schweigen kann ebenso falsch sein wie Reden. Es gibt so falsches Schweigen, wie es falsches Reden gibt. Und deshalb: Wir können nicht einfach schweigen. Gerade wenn das Schweigen die Verbrechen verdecken soll.

»Ja – erinnern«. Das heißt, dass wir uns weiter mit unserer Sprache verständigen müssen, die wir nun einmal haben. Es wäre allerdings gut, wenn unser Herz unserem Verstand zu Hilfe käme, damit wir vielleicht eine Sprache finden, die uns hilft, zu reden von dem, was uns eigentlich stumm macht.

Wir haben unter Schmerzen gelernt – das ist eine der ganz wesentlichen politisch-kulturellen Leistungen der alten Bundesrepublik. Wir haben gelernt, dass die Anerkennung von Schuld, auch das Bezeugen von Scham, das Ja zu einer eigenen Geschichte, und sei sie noch so schmerzhaft, eine Gesellschaft nicht schwächer, sondern stärker macht. Sich der Vergangenheit stellen ist das bessere Programm, und wir wünschten dieses Programm all jenen Gesellschaften, die sich schwertun und in einem vorschnellen Schlussstrich und im Schweigen über das Dunkel von Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit den geeigneten Weg in eine politische Zukunft sehen.

Ich weiß, dass der Meinungsstreit manchmal heftig war, oft giftig und vergiftet, und Auschwitz auch als Moralkeule benutzt wurde, wo eine schlichte innenpolitische Sachdebatte angezeigt gewesen wäre. Trotzdem waren diese Zeiten, als wir uns neu und zu unserer Schuld hin orientierten, Wachstumszeiten für diese Republik. Sie hat sich ihr ziviles Gesicht unter Kämpfen und Streit errungen; das wollen wir heute auch würdigen.



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