Neue Irre - Wir behandeln die Falschen: Eine heitere Seelenkunde. Auf dem neuesten Stand der Forschung (German Edition) by Lütz Manfred

Neue Irre - Wir behandeln die Falschen: Eine heitere Seelenkunde. Auf dem neuesten Stand der Forschung (German Edition) by Lütz Manfred

Autor:Lütz, Manfred [Lütz, Manfred]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Kösel-Verlag
veröffentlicht: 2020-08-24T00:00:00+00:00


4. DEMENZKRANKE UND NORMALE – EINE ANNÄHERUNG

Und so verweist ein Alzheimerpatient all die Normalen auf das eigentlich Wichtige ihres Lebens. Während die Normalen mit dicht gedrängtem Terminkalender durch ihr unwiederholbares Leben hetzen und die Gegenwart vergessen, weil sie in dem Wahn leben, das Leben bestehe nur aus einer abgearbeiteten Vergangenheit und einer noch zu bearbeitenden Zukunft, so erinnern demenzkranke Patienten, die die Vergangenheit vergessen haben und die nicht in die Zukunft planen, uns alle daran, dass das Leben ausschließlich in der Gegenwart stattfindet. Es gibt demenzkranke Menschen, die sich mit ihrer Demenz arrangiert haben und zufrieden ihr Leben leben. Natürlich geht das nicht ohne die Hilfe von Angehörigen und professionellen Diensten. Selbst dann gibt es immer wieder für den Demenzkranken mühsame Situationen. Doch auch Normale haben ja mitunter Probleme. Der Schrecken der Demenz liegt für die Normalen zu einem guten Teil an der fixen Idee, ein gutes menschliches Leben bedeute, immer alles selbst im Griff haben zu müssen. Ein solches Lebensziel ist nicht weise, es ist auch in nicht dementen Zeiten utopisch. Immer steht man in irgendwelchen unvermeidlichen Abhängigkeiten. Gespräche mit demenzkranken Menschen sind mitunter müßig, das heißt, es kommt nichts dabei heraus. Aber muss aus allem im Leben etwas herauskommen? Die Muße war für die alten Griechen der Höhepunkt des Lebens, es war eine Zeit, die man zwecklos, aber gerade dadurch höchst sinnvoll verbrachte. Sinnvolle Gespräche, die nicht irgendwelche kurzfristigen Zwecke verfolgen, dazu sind gestresste Normale, für die Zeit Geld ist, kaum noch in der Lage. Dabei ist gegenwärtig gelebte Lebenszeit eigentlich unbezahlbar, weil sie unwiederholbar und damit unwiederbringlich ist. An diese kostbare Einsicht können die Demenzkranken die Normalen erinnern.

Wenn sie nicht durch irgendwelche Unübersichtlichkeiten irritiert sind, können Demenzkranke viel angenehmere Menschen sein als die Normalen. Sie wollen einen nie übers Ohr hauen, sie lügen nie, denn wenn sie die Unwahrheit sagen, sagen sie sie nie mit böser Absicht. Sie sind nicht nachtragend. Man fühlt sich nicht gedrängt, sich irgendwie zu produzieren, denn für sie gilt allein die menschliche Gegenwart. Das soll nicht heißen, dass Demenz ein Glücksfall ist, kein Angehöriger, der schwer an der Last der Erkrankung trägt, könnte das so sehen. Aber sie ist eben auch nicht bloß das Ende, sondern bisweilen sogar in Momenten ein Aufleuchten echter Humanität. Weil ich finde, dass man über Demenz nicht immer nur als Last, als Pflegeproblem etc. reden sollte, habe ich in einer Talkshow, in der Bettina Tietjen ihr unterhaltsames Buch über ihren liebenswerten demenzkranken Vater vorstellte, gesagt: »Ich freue mich, wenn ich dement werde, dann habe ich den ganzen Mist vergessen und nette Leute, die mir helfen.« Natürlich habe ich vorher meine Frau und meine Töchter gefragt, ob ich das so sagen darf, denn die haben ja dann die Arbeit.

Vor allem am Anfang ist die demenzielle Entwicklung für alle Beteiligten leidvoll. Wenn das Gedächtnis nachlässt, vor allem typischerweise das Neugedächtnis, dann kommt es zu peinlichen Situationen. Man verlegt Gegenstände – und beschuldigt andere, sie gestohlen zu haben. Man verliert den Überblick über die alltäglichen Dinge und erlebt das zunächst als schmerzlichen Verlust an Selbstständigkeit.



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