Muttermilch by St Aubyn Edward

Muttermilch by St Aubyn Edward

Autor:St Aubyn, Edward [St Aubyn, Edward]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492970419
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2015-06-11T16:00:00+00:00


August 2002

10

Plötzlich rannte Thomas von dem blauen Planschbecken, in dem er eben noch selbstvergessen gespielt hatte, über den Strand und blickte dabei über die Schulter, um zu sehen, ob seine Mutter ihm folgte. Mary sprang auf und rannte ihm nach. Wie schnell er geworden war – mit jedem Tag ein wenig schneller. Schon war er auf der obersten Stufe und musste nur noch die Promenade Rose überqueren, um die Straße zu erreichen. Sie nahm mit jedem Sprung drei Stufen und erwischte ihn gerade noch zwischen den parkenden Wagen, die ihn vor den Fahrern der Autos auf der am Meer entlangführenden Straße verbargen. Als sie ihn hochhob, trat und zappelte er.

»Tu das nie wieder«, sagte sie, den Tränen nahe. »Nie, nie wieder. Es ist viel zu gefährlich.«

Thomas lachte glucksend vor Aufregung. Er hatte dieses neue Spiel gestern entdeckt, als sie wieder am Tahiti Beach angekommen waren. Letztes Jahr war er noch umgekehrt, wenn er sich mehr als drei Meter von seiner Mutter entfernt hatte.

Als Mary ihn von der Straße zurück zum Sonnenschirm trug, schaltete er in einen anderen Modus um: Er lutschte am Daumen und tätschelte ihr liebevoll die Wange.

»Alles in Ordnung, Mama?«

»Ich habe mich aufgeregt, weil du auf die Straße gerannt bist.«

»Ich werde was ganz Gefährliches machen«, sagte Thomas stolz. »Ja, das werde ich.«

Mary musste lächeln. Thomas war so ein zauberhaftes Kind.

Wie konnte sie behaupten, sie sei traurig, wenn sie im nächsten Augenblick glücklich war? Wie konnte sie behaupten, sie sei glücklich, wenn sie im nächsten Augenblick am liebsten geschrien hätte? Sie hatte keine Zeit, jedes Gefühl, das sie durchfuhr, zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen. Sie befand sich schon zu lange in einem Zustand aufwühlenden Mitgefühls, in dem sie sich ganz auf die Launen ihrer Kinder einstimmte. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass sie im Begriff war, ihre eigene Existenz vollkommen zu vergessen. Um sich selbst zurückzuerobern, musste sie weinen. Leute, die das nicht verstanden, dachten, ihre Tränen rührten von einer chronisch unterdrückten, banalen Katastrophe her, ihrer übergroßen Erschöpfung, ihrem weit überzogenen Bankkonto oder der Untreue ihres Mannes, dabei waren sie ein Schnellkurs, in dem jemandem, der sein Ich zurückerhalten musste, um es erneut opfern zu können, die Notwendigkeit des Egoismus vermittelt wurde. Sie war schon immer so gewesen. Als Kind hatte sie nur sehen müssen, wie ein Vogel auf einem Zweig landete, um sogleich sein wild klopfendes Herz anstelle ihres eigenen zu spüren. Manchmal fragte sie sich, ob ihre Selbstlosigkeit ein Vorzug oder krankhaft war. Auch da rauf wusste sie letztlich keine Antwort. Patrick war derjenige, der in einer Welt arbeitete, wo Urteile und Meinungen vom Fluidum der Autorität umgeben sein mussten.

Sie setzte Thomas auf die aufeinandergestapelten Plastikstühle am Tisch.

»Nein, Mama, ich will nicht auf den Doppelstühlen sitzen«, sagte Thomas, kletterte herunter und rannte, schelmisch lächelnd, wieder in Richtung Treppe. Mary fing ihn sogleich wieder ein und hob ihn auf die Stühle.

»Nein, Mama, heb mich nicht hoch, das ist wirklich unerträglich.«

»Wo schnappst du nur diese Begriffe auf?«, fragte Mary lachend.

Michelle, die Besitzerin des Strandlokals, brachte die gegrillte Dorade und sah Thomas tadelnd an.



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