Max Heller 04 - Juni 53 by Goldammer Frank
Autor:Goldammer, Frank [Goldammer, Frank]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv
veröffentlicht: 2019-12-22T16:00:00+00:00
22. Juni 1953, früher Nachmittag
Heller war aus dem Wagen gestiegen, blieb dann aber noch stehen. Es war sehr warm geworden, Sperlinge tschilpten laut in den Hecken, schwärmten unvermittelt auf, um sich nach einem hohen Schwung durch die Luft keine zehn Meter weiter wieder niederzulassen. Vom Bahnhof Trachau kreischten die Bremsen eines Zuges.
Eine regelrechte Lähmung hatte Heller auf einmal befallen. Die Arme hingen leblos an ihm herab, er blickte starr geradeaus, ohne etwas Spezielles im Fokus zu haben. Er sah in die Ferne und durch alles hindurch.
»Herr Oberkommissar?«, fragte der junge Polizist und beugte sich vom Fahrersitz ein wenig hinüber. Es war derselbe, der ihn schon zuvor gefahren hatte. Nicht einmal seinen Namen hatte Heller sich gemerkt.
»Ich überlege nur«, brummte Heller, doch das stimmte nicht. Er dachte an nichts, an gar nichts. Oder besser, an alles zugleich, und es vermengte sich in seinem Kopf zu einem zähen Brei. Schon sein Besuch im Krankenhaus, wo Steffens Schusswunde versorgt worden war, hatte Appelts Worte Lügen gestraft. Steffens war weg, nach Aussage des Chefarztes von Hauptmann Bech abgeholt. Was also tat er hier noch? Warum fügte er sich nicht einfach in dieses System, in dem Fehler vertuscht und Zahlen gefälscht wurden, wo anscheinend jeder jedem etwas vormachte und jeder wusste, dass ihm etwas vorgemacht wurde?
Wenigstens hatte er den Arzt gefragt, was man mit Frau Marquart machen könnte. Er hatte sich dabei wie ein Verräter gefühlt, Frau Marquart gegenüber. Als wollten sie sie abschieben. Und der Blick des Arztes, auch wenn er teilnahmslos erschien, war ihm doch ein einziger Vorwurf. Und geholfen hatte es ihm nichts. Gar nichts. Wenden Sie sich dahin oder dorthin, hatte der Mann ihm geraten. Ans Rote Kreuz, an das Familienamt, ans Bürgeramt, an eine christliche Organisation. Das hatten sie doch längst alles getan und überall waren sie nur vertröstet worden. Wahrscheinlich blieb ihnen wirklich keine andere Möglichkeit, als Kassners Rat zu folgen. Heller verabscheute diesen Gedanken, doch er liebte auch Karin und sah, wie auslaugt sie war und wie kurz davor, zusammenzubrechen. Vor allem aber sah er ihr vom Schlag mit dem Gehstock geschwollenes Jochbein, die geschwollene Nase, die schwarz unterlaufenen Augen.
Er musste es tun, noch heute. Sich einen Vorwand ausdenken, Frau Marquarts Tasche packen, sie in ein Krankenhaus bringen. Sich nicht abweisen lassen. Konsequent bleiben. Sein Gewissen bekämpfen. Sich einreden, es ginge nicht anders.
Heller blickte sich jetzt um. Ein einziger Gedanke hatte ihn hierhergeführt, zum Haus der Familie Ziegler. Mutter und Sohn in Haft, der Vater nicht aufzufinden, nachdem die übereifrige Truppe des MfS fälschlich jemanden anderen verhaftet hatte.
Einen Ziegler sollte Oldenbusch suchen in den alten Personalakten des VEB Rohrisolation Dresden, hatte er gesagt, und Oldenbusch hatte einen Ziegler gefunden. Vielleicht hatte das doch etwas zu bedeuten. Wenn es derselbe Ziegler war, dessen Sohn Bodo sich am siebzehnten Juni auf dem Betriebsgelände des VEB Rohrisolation aufgehalten hatte. Derselbe Ziegler, bei dessen Verhaftung durch die Nazis er damals sogar dabei gewesen war? Damals, einundvierzig, als es aussah, als würde die Wehrmacht die halbe Welt erobern können und die Nationalsozialisten tatsächlich tausend Jahre an der Macht bleiben würden.
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