Maigret - 60 - Maigret und der Clochard by Simenon Georges

Maigret - 60 - Maigret und der Clochard by Simenon Georges

Autor:Simenon, Georges [Georges, Simenon]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-03-24T04:00:00+00:00


5

Maigret sprach selten mit seiner Frau über den Fall, den er gerade bearbeitete. Er besprach ihn übrigens auch meist nicht mit seinen engsten Mitarbeitern, er beschränkte sich auf Anweisungen, die er ihnen erteilte. Es war eben seine Art zu arbeiten, die Zusammenhänge zu sehen, sich Stück um Stück in das Leben von Leuten einzufühlen, die er am Tag zuvor noch nicht gekannt hatte.

»Wie denken Sie über den Fall, Maigret?«, hatte ihn oft ein Untersuchungsrichter gefragt, wenn er bei einem Lokaltermin oder einer Rekonstruktion des Tathergangs dabei war.

Im Gerichtsgebäude wurde seine stets gleichlautende Antwort kolportiert:

»Ich denke nie, Herr Richter.«

Und irgendjemand hatte eines Tages kommentiert:

»Er saugt sich voll …«

In gewisser Weise stimmte das. Die Wörter waren ihm zu eindeutig, deshalb schwieg er lieber.

Diesmal war es anders, zumindest was Madame Maigret betraf, vielleicht, weil sie ihm mit ihrer Schwester in Mulhouse doch weitergeholfen hatte. Als er sich zum Mittagessen setzte, verkündete er:

»Heute habe ich Keller persönlich kennengelernt.«

Sie war doppelt überrascht. Erstens hatte er es ungefragt gesagt, und zweitens hatte es fröhlich geklungen. Richtig fröhlich war er zwar nicht, schon gar nicht aufgekratzt. Aber es lag doch eine gewisse Leichtigkeit, eine gewisse Heiterkeit in seiner Stimme und in seinem Blick.

Endlich einmal hatte er nicht die Zeitungsleute auf den Fersen, und der Staatsanwalt ließ ihn ebenso in Ruhe wie der Untersuchungsrichter. Da war ein Clochard unter dem Pont Marie niedergeschlagen und in das Hochwasser der Seine geworfen worden, doch wie durch ein Wunder war er mit dem Leben davongekommen und hatte sich als so widerstandsfähig erwiesen, dass Professor Magnin aus dem Staunen nicht mehr herauskam.

Eigentlich war es ein Verbrechen ohne Opfer, genau genommen sogar ohne Mörder, und außer der dicken Lea und zwei oder drei Obdachlosen machte sich niemand Sorgen um den ›Doktor‹.

Doch Maigret widmete diesem Fall so viel Zeit, als wäre es eine ganz Frankreich erregende Tragödie gewesen. Er schien ihn zu seiner ganz persönlichen Angelegenheit zu machen, und so, wie er über seine Begegnung mit Keller sprach, hätte man meinen können, es handle sich um jemanden, den seine Frau und er seit langem gern kennengelernt hätten.

»Ist er wieder bei Bewusstsein?«, fragte Madame Maigret, die nicht zu neugierig erscheinen wollte.

»Ja und nein … Er hat kein Wort gesagt. Er hat mich nur angeschaut, aber ich bin überzeugt, dass ihm kein Wort von dem entgangen ist, was ich ihm gesagt habe. Die Oberschwester ist anderer Meinung. Sie behauptet, er sei noch benommen von den Spritzen, die er bekommen habe, und er befinde sich im Zustand eines Boxers, der nach einem K.o. aufsteht.«

Er aß, schaute zum Fenster hinaus, hörte den Vögeln zu.

»Hast du das Gefühl, dass er den Täter kennt?«

Maigret seufzte und zeigte dann ein für ihn ungewohntes, Selbstironie ausdrückendes Lächeln.

»Ich weiß überhaupt nichts … Es würde mir schwerfallen, mein Gefühl überhaupt in Worte zu fassen …«

Selten war er so aus dem Konzept geraten wie heute Vormittag im Hôtel-Dieu, doch selten hatte ihn eine Aufgabe auch so fasziniert.

Schon die Umstände der Begegnung waren alles andere als günstig. Sie fand in einem Krankenzimmer statt, in dem vielleicht zehn Patienten in ihren Betten lagen und drei oder vier weitere am Fenster standen oder saßen.



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