Maigret 25 by Simenon
Autor:Simenon
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2013-02-05T05:00:00+00:00
5
Gast Nr. 13
A
n diesem Morgen war Maigret von unendlicher Geduld. Und trotzdem! Er hatte Félicie nicht daran hindern können, ihr Trauerkleid anzulegen mit dem lächerlichen flachen Hut, dessen Schleier sie in antikem Faltenwurf trug. Womit hatte sie ihr Gesicht eingerieben? Wollte sie damit die blauen Flecken verbergen? Sie hatte wirklich ein besonderes Talent, Aufsehen zu erregen. Jedenfalls sah sie unter ihrer weißen Creme- und Puderschicht aus wie ein Clown. In dem Zug, der sie nach Paris brachte, saß sie unbeweglich, versteinert, den Blick schmerzlich in die Ferne verloren. Man spürte, alle, die sie sahen, sollten denken:
»Mein Gott, wie sie leidet! Und wie sie sich beherrscht! Wahrhaftig, ein Denkmal des Schmerzes, eine Mater Dolorosa!«
Doch Maigret gestattete sich nicht die Andeutung eines Lächelns. Als sie in der Rue du Faubourg-Saint-Honoré in ein Obstgeschäft treten wollte, murmelte er behutsam:
»Ich glaube nicht, daß er irgend etwas zu sich nehmen darf, meine Liebe.«
Verstand er denn nicht? O doch, er verstand und ließ sie tun, worauf sie hartnäckig bestand, nämlich die schönsten spanischen Trauben, Orangen und eine Flasche Champagner zu erstehen. Auch Blumen mußten her, ein gewaltiger Strauß weißer Flieder, und das alles trug sie selbst, ohne ihren tragischen, unnahbaren Ausdruck im mindesten zu verlieren.
Resigniert folgte ihr Maigret, wie ein gutmütiger, nachsichtiger Vater. Erleichtert stellte er fest, daß keine Besuchszeit im Krankenhaus war, denn in diesem Aufzug hätte sie Aufsehen erregt. Trotzdem bekam er vom diensthabenden Arzt die Erlaubnis, sie einen Blick in das Zimmer werfen zu lassen, in dem Jacques Pétillon ganz allein lag. Es befand sich am Ende eines langen Flurs mit gestrichenen Wänden voller schaler Gerüche und offenstehender Türen, durch die man Betten sah, trübe Gesichter und Weiß, viel zu viel Weiß, das hier die Farbe der Krankheit wurde.
Man ließ sie ziemlich lange warten, aber sie blieb stehen mit ihren Paketen und Päckchen. Schließlich kam eine Krankenschwester, die bei Félicies Anblick zusammenzuckte.
»Geben Sie mir das alles, bitte! Dafür wird sich schon ein Kind finden. Pst! Vor allen Dingen, sprechen Sie nicht! Verhalten Sie sich ruhig!«
Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und gestattete nur Félicie, einen Blick in das fast dunkle Zimmer zu werfen, in dem Pétillon reglos wie ein Toter lag.
Als die Tür wieder geschlossen war, glaubte Félicie sagen zu müssen:
»Sie werden ihn retten, nicht wahr? Ich flehe Sie an, tun Sie alles Notwendige, um ihn zu retten.«
»Aber, Mademoiselle …«
»Lassen Sie es an nichts fehlen. Hier!«
Maigret lachte nicht, lächelte noch nicht einmal, als er sah, wie sie aus ihrer Handtasche einen zusammengefalteten Tausendfrancschein nahm und ihn der Schwester reichte.
»Wenn Geld erforderlich ist, ganz gleich wieviel …«
Maigret machte sich nicht mehr lustig über sie, obwohl sie noch nie so lächerlich gewesen war. Ganz im Gegenteil. Als sie den Flur wieder entlanggingen, wo sich Félicies schwarzer Schleier prächtig bauschte, kam ihnen ein Kind entgegen. Sie beugte sich hinunter und wollte den kleinen Kranken küssen, wobei sie seufzte:
»Das arme Ding!«
Ist man nicht empfänglicher für alles Unglück, wenn man leidet? Ein paar Schritte weiter stand eine junge Schwester mit platinblondem Haar, in einen viel zu engen Kittel gezwängt, der ihren Körper betonte.
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