Maerchen aus China - Vollstaendige Ausgabe mit Anmerkungen In der Uebersetzung von Richard Wilhelm by Richard Wilhelm

Maerchen aus China - Vollstaendige Ausgabe mit Anmerkungen In der Uebersetzung von Richard Wilhelm by Richard Wilhelm

Autor:Richard Wilhelm
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-8438-0008-2
Herausgeber: marixverlag


70. Bestrafte Habgier

Es lebte ein Mann südlich vom Yangtsekiang. Der hatte eine Stelle als Lehrer angetreten in Sütschoufu an der Grenze von Schantung. Als er dort ankam, war das Schulhaus noch nicht fertig. Man hatte in der Nachbarschaft ein zweistöckiges Haus entlehnt, in dem der Lehrer vorläufig wohnen und Schule halten sollte. Das Haus stand außerhalb des Dorfes, in der Nähe des Flussufers. Eine weite Ebene, mit wildem Gestrüpp bewachsen, dehnte sich nach allen Seiten aus. Dem Lehrer gefiel die Aussicht.

So stand er eines Abends da und sah, an die Tür gelehnt, dem Sonnenuntergang zu. Der Rauch, der aus den Hütten stieg, mischte sich allmählich mit den Schatten der Dämmerung. Alle Geräusche des Tages waren verstummt. Plötzlich sah er in der Ferne am Flussufer einen Feuerschein aufblitzen. Er eilte hin, um sich die Sache anzusehen. Er fand einen hölzernen Sarg, aus dem der Feuerschein hervorkam. Er dachte bei sich selbst: »Die Edelsteine, die man den Toten mitgibt, leuchten bei Nacht. Vielleicht sind Kleinodien darin.« In seinem Herzen wachte die Gier auf, und er vergaß darüber, dass ein Sarg ein Ruhebett der Toten ist. Er hob einen großen Stein auf und schlug damit den Sargdeckel entzwei. Er bückte sich nieder, um genauer zuzusehen. Da erblickte er im Sarg einen Jüngling ausgestreckt liegen. Sein Gesicht war weiß wie Papier. Auf dem Kopf hatte er einen Trauerhut; hanfene Kleider umhüllten den Leib, und Strohsandalen trug er an den Füßen. Der Lehrer erschrak aufs Äußerste und wandte sich, um wegzugehen. Aber schon hatte sich der Leichnam aufgerichtet. Da packte ihn die Angst, und er lief davon. Der Leichnam stieg aus dem Sarg und lief ihm nach. Zum Glück war das Haus nicht weit entfernt. Er lief, was er konnte, rannte die Treppe empor und schloss die Tür hinter sich zu. Allmählich kam er wieder etwas zu Atem. Draußen war kein Laut zu hören. So dachte er, die Leiche sei vielleicht nicht mitgekommen. Er öffnete das Fenster und spähte nach unten. Die Leiche lehnte an der Mauer des Hauses. Plötzlich sah sie, dass das Fenster offen war. Mit einem Satz sprang sie in die Höhe zum Fenster hinein. Vor Schreck erstarrt fiel der Lehrer die Haustreppe hinunter und blieb unten bewußtlos liegen. Da fiel auch oben die Leiche zu Boden. Die Schüler waren um jene Zeit alle schon nach Hause gegangen. Der Hausherr wohnte in einem anderen Hause, so dass kein Mensch die Geschichte bemerkte. Am anderen Morgen kamen die Schüler in die Schule. Die Tür war verschlossen. Sie riefen, niemand antwortete. Da schlugen sie die Tür ein und fanden ihren Lehrer auf der Erde liegen. Sie besprengten ihn mit Ingwersuppe; aber es dauerte lange, bis er wieder zu sich kam. Auf Befragen erzählte er dann, was ihm begegnet war. Alle miteinander stiegen sie dann nach oben und schafften die Leiche herab. Man brachte sie vor das Dorf und verbrannte sie. Die Knochenreste tat man dann wieder in den Sarg. Der Lehrer aber sagte seufzend: »Um der Gewinnsucht eines Augenblicks willen wäre ich beinahe ums Leben gekommen.



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