Luther, Rosenzweig und die Schrift by Micha Brumlik

Luther, Rosenzweig und die Schrift by Micha Brumlik

Autor:Micha Brumlik [Brumlik, Micha]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783863935443
Herausgeber: CEP Europäische Verlagsanstalt
veröffentlicht: 2017-03-26T22:00:00+00:00


Gesine Palmer

„Wenn erst einmal die Regel gesichert ist…“ – Rosenzweigs Luther-Rezeption jenseits von „Buchvergötzung“ und „Wortverwaltung“

Zu den empörtesten Absätzen, die Franz Rosenzweig im Stern der Erlösung über den Islam schreibt, gehört ohne Zweifel jener vielzitierte:

„Und wie zum Zeichen, daß die Offenbarung hier im Islam nicht ein lebendiges Ereignis zwischen Gott und Mensch ist, ein Geschehen, in das Gott selber eingeht bis zur völligen Selbstverneinung, göttliches Sichselberschenken, sondern eine frei hingesetzte Gabe, die Gott dem Menschen in die Hände legt, ist hier die Offenbarung von vornherein das, was sie im Glauben sogar für sein eigenes Bewußtsein erst allmählich und nie ganz wird: ein Buch. Das erste Wort der Offenbarung an Muhamed lautet: Lies! Das Blatt eines Buches wird ihm gezeigt, ein Buch bringt ihm der Erzengel in der Nacht der Offenbarung vom Himmel hernieder. Älter und heiliger als die geschriebene gilt dem Judentum die mündliche Lehre, und Jesus hat den Seinen kein geschriebenes Wort hinterlassen; der Islam ist Buchreligion vom ersten Augenblick an. Das Buch, das vom Himmel herab gesendet wird – kann es eine völligere Abkehr von der Vorstellung geben, daß Gott selber ‚herniedersteigt’, selber sich dem Menschen schenkt, sich ihm preisgibt? Er thront in seinem höchsten Himmel und schenkt dem Menschen – ein Buch.“1

Diese Empörung ist ziemlich erstaunlich angesichts der großen Aufmerksamkeit, die Rosenzweig selbst nicht nur der eigenen Buchproduktion, sondern auch den heiligen Texten seines Volkes und den gelehrten Werken von christlichen oder „nichtmehrchristlichen“ Verfassern widmete. Das, was er hier als die mündliche Lehre hervorhebt, war zu seiner Zeit in allen jüdischen Schulen längst selbst ein Bücherregal geworden, als Mischna, Talmud und Midrasch verschriftet seit weit mehr als 1000 Jahren, und wenn es irgendeine Kultur in seinem Horizont gab, die als besonders leseversessen gelten konnte, weil sie ihre Kinder (jedenfalls die männlichen) bereits im Alter von drei Jahren alphabetisierte und ganze Bevölkerungsgruppen von der Arbeit freistellte für die Buchpflege, so war das ohne Zweifel die jüdische Kultur. Wenn es hingegen eine Belegstelle für die vom geschätzten Kollegen Brumlik wiederholt vorgetragene Behauptung, dass Rosenzweigs Philosophie nicht Judentum, sondern „reiner Protestantismus“ sei, geben kann, dann ist es diese. Denn hier macht Rosenzweig tatsächlich den Gott, der „selber ‚herniedersteigt’“ und Jesus, der „den Seinen kein geschriebenes Wort hinterlassen“ hat, zum Zentrum „des Glaubens“.

In dem seltsamen Essay „Die Schrift und Luther“ von 1926 scheint das alles vergessen oder nicht mehr gültig zu sein. Tatsächlich hatte Rosenzweig mittlerweile nicht nur „im Leben“ durchaus andere Sorgen – er war schon schwerstkrank, als er diesen Text schrieb (bzw. seiner Frau mit den Augen diktierte) – sondern er hatte auch einige Erfahrungen mit der zweischneidigen Tätigkeit des Übersetzens von Büchern gemacht. Und da war es ihm mit den Büchern anscheinend so gegangen wie in den den Stern hervortreibenden Erfahrungen mit Mensch, Welt und Gott: seine Auffassung von ihnen hatte sich radikal dynamisiert. Aus starren Identitätsbehauptungen in Prädikativsätzen waren „verbale“ Aussagen geworden: Identitätssätze wie „Gott ist Liebe“ hatte Rosenzweig ja bereits im Herzbuch des Stern aufgelöst in eine sehr präzise Vorstellung davon, wie Gott liebt.2 Und der



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