Lesereise Istanbul by Joscha Remus

Lesereise Istanbul by Joscha Remus

Autor:Joscha Remus
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
veröffentlicht: 2014-12-28T05:00:00+00:00


Ein Schönkopf namens Trotzki

Wie Transvestiten in Istanbul den 1. Mai feiern

Auch das ist Istanbul. Ein einziger Rausch. Wie überall in der Welt feiert man den 1. Mai auch hier am Taksimplatz in einem Meer aus Fahnen und Transparenten mit den Partisanenliedern »Bella Ciao« und »Bandiera Rossa«. Die Demo hatte bereits morgens mit dem begonnen, was die Türken gürültü nennen – also Krach, Lärm. Und darin ist diese Stadt Istanbul wohl kaum zu überbieten. Jetzt, da auf dem vor meinem Hotel liegenden breiten Asphaltband einmal keine Autos dahinrauschen oder als Teilnehmer eines Hupkonzerts ohnegleichen im Stau stehen, jetzt, da die Straße den Demonstranten gehört, beginnen diese den fehlenden Autolärm doppelt und dreifach wettzumachen, indem sie mit Schlaginstrumenten, Stimmen und Sirenen einen Heidenlärm veranstalten. Mein neues türkisches Lieblingswort ist gürültülü. Einfach an das Wort für Lärm gürültü noch eine Umlautsilbe dranhängen, wie an einen rumpelnden Güterwaggon, und schon hat man im Türkischen das Adjektiv lärmend. Und da Krach steigerbar ist, wie Adjektive auch, müsste gürültülülü dann folgerichtigerweise dem Komparativ und gürültülülülü dem Superlativ entsprechen.

Worte übrigens, die aus türkischen Maidemonstrantenmündern so stark und lautmalerisch hervorschießen wie riesige Geröllladungen, die durch die Stadt poltern.

Am frühen Morgen, zu einer Zeit, zu der sich Istanbul ansonsten nur müde dahinschleppt und zu der man keinen Türken anrufen darf, begann die Maidemo bereits mit einer kakofonischen Symphonie für Megafone, Sänger, Trompeter, Trommler und Helikopter. Dann entwickelte sich eine extreme Form des gürültü heraus, als einige schwarz Vermummte begannen, Feuerwerkskörper über die Menge steigen zu lassen, die sich, wohl mit Absicht, genau wie donnernde Gewehrsalven anhörten, andere auch wie Kanonenschüsse. Über unseren Köpfen schwirrten Helikopter wie Hummelschwärme. Die Seitenstraßen waren abgeriegelt, die Polizei übt sich, auch bei mir, in strenger Leibesvisitation.

Nun fließe ich mit der Menge wieder auf den Taksimplatz, den größten Platz der Stadt. In den Medien sagt man später, es seien mittags eine Million Menschen dort gewesen.

Ein windiges Meer aus Fahnen, Transparenten, Schildern, riesigen zusammengenähten Bettlaken, wahlweise mit den Bildern von Marx, Lenin, Engels, Stalin, Trotzki oder Che Guevara bemalt. Auf einem fernen Laken erkenne ich das Wort Cocacolonization.

Alle Sesamkringelverkäufer der Stadt scheinen nun hier versammelt. Einer von ihnen schleppt einen riesigen, kunstvoll geschichteten Turm aus Sesamkringeln auf einem hölzernen Tragegestell durch die Menge wie ein Balancekünstler im Zirkus. Tausende von lizenzlosen Händlern wittern heute ihre große Chance, weil die Polizei ihre Augen auf die Menge gerichtet hat. Ihnen sind die Händler und all die Ausgestoßenen der Gesellschaft heute mal ausnahmsweise egal. Am Straßenrand in der Nähe meines Hotels beobachte ich einige Transvestiten, die beim Revolutionslied »Bella Ciao« die Arme nach oben strecken, dazu die Fäuste ballen und kräftig mitschmettern.

Im Hotel lande ich anschließend vor lauter Aufregung ein Stockwerk zu tief im falschen Zimmer. Aber was heißt schon falsch? Denn ich lande im Zimmer von Rosa Lindenburg und Manon Verheyke, zwei Holländerinnen, die die Maidemonstration von ihrem Fenster aus verfolgen. Zwei Lehrerinnen, die hier in Istanbul gestrandet sind und nun auf einen Job warten. Die Historikerin Rosa Lindenburg wurde nach Rosa Luxemburg benannt und zeigt mir stolz ein Buch von Leo Trotzkis Sekretär, der ihr eine persönliche Widmung hineingeschrieben hat.



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