Lektüreschlüssel. Jean-Paul Sartre by Bernd Krauss
Autor:Bernd Krauss
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Reclam Verlag
veröffentlicht: 2012-08-14T16:00:00+00:00
5. Interpretation
Philosophische Grundlagen
Sartres atheistischer Existentialismus ist eine Philosophie der Freiheit. Damit ist nicht etwa wirtschaftliche oder politische Freiheit gemeint, sondern eine Freiheit der Wahl, was der Mensch sein will. Eine Abhängigkeit des Willens von äußeren oder inneren Faktoren – Gott, Schicksal, Gesellschaft, Psyche – gibt es nicht, ebenso wenig eine allgemeingültige Ethik im Sinne Kants. Der Mensch schafft seine eigenen Werte und seine eigene Moral. So wird Sartres absurd anmutende Feststellung, dass die Franzosen nie so frei waren wie unter der deutschen Okkupation, verständlich: Sie hatten eine klare Alternative, sie konnten und mussten wählen, ob sie die Besatzer unterstützen oder bekämpfen wollten.
Da es keine äußeren Zwänge und keine vorgegebenen Werte gibt, nach denen sich der Mensch richten kann, ist er voll verantwortlich für sich selbst, aber zugleich auch für die ganze Menschheit, indem er durch seine Entscheidungen Werte schafft und ein Modell des Menschen entwirft, wie er sein soll. Es gibt keine Ausflüchte oder Entschuldigungen, der Mensch muss sich entscheiden, er ist dazu »verurteilt, frei zu sein«, wie Sartre formuliert. Freiheit und Verantwortung bedeutet nämlich auch Verlassenheit und Angst, da man nicht weiß, ob man die richtige Entscheidung, die richtige Wahl getroffen hat.
Knapp und bündig beschreibt Sartre die Lage des Menschen mit dem Satz: »L’existence précède l’essence«.6 Er erklärt diese These, indem er den Menschen mit einem hergestellten Gegenstand, etwa einem Papiermesser, vergleicht. Der Handwerker hat ein bestimmtes Konzept von dem Gegenstand, bevor er ihn herstellt: wie er aussieht, aus welchem Material und auf welche Weise er hergestellt und wozu er dienen soll. Die Essenz geht hier also der Existenz voraus.
Beim Menschen ist es genau umgekehrt: Da es einen Schöpfergott nicht gibt, gibt es auch kein Konzept, nach dem der Mensch »hergestellt« worden ist, d. h., die Existenz geht der Essenz voraus. Der Mensch erscheint in der Welt und ist zunächst nichts. Erst danach definiert er sich selbst, und zwar ausschließlich durch sein Handeln. In seinem Essay L’existentialisme est un humanisme schreibt Sartre: »L’homme n’est rien d’autre que son projet. Il est l’ensemble de ses actes«. Und Inès formuliert in Huis clos gegenüber Garcin ganz ähnlich: »Seuls les actes décident de ce qu’on a voulu […] Tu n’es rien d’autre que ta vie« (51,36–42).
Voraussetzung der Freiheit des Menschen ist, dass er – im Gegensatz zu den Gegenständen – ein Bewusstsein besitzt. Der Gegenstand denkt nicht die äußere Welt, denkt sich selbst nicht. Er ist in sich eingeschlossen, er ist »en soi«, sagt Sartre. Der Mensch denkt, und durch sein Denken beurteilt er die Welt und sich selbst. Diese Fähigkeit macht den Menschen zum Menschen. Sartre sagt: Er ist »pour soi«.
Wenn der Mensch allein wäre, wäre er vollkommen frei, weil er allein die Welt beurteilen könnte, die ja nur für ihn da wäre. Er könnte handeln nach eigenem Gutdünken, niemand würde ihm widersprechen, niemandem wäre er Rechenschaft schuldig, er wäre ein absolutes »pour soi«.
Da es andere Menschen gibt, kann ich nicht nur mein eigenes, sondern muss auch das Denken des anderen berücksichtigen. Seine Sicht der Welt ist eine andere als meine. Deshalb entsteht zwischen seinem Denken und dem meinen notwendigerweise ein Konflikt.
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