Der Taubentunnel by John le Carré

Der Taubentunnel by John le Carré

Autor:John le Carré [Carré, John le]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman, Belletristik
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2015-12-31T23:00:00+00:00


21

Bei den Inguschen

Ich hatte schon vor unserem Zusammentreffen von Issa Kostojew gehört, doch den Lesern unter fünfzig wird dieser Name wahrscheinlich nichts sagen. Kostojew hatte es 1990 als für die besonders schweren Delikte zuständiger Polizeibeamter geschafft, dem Serienmörder Andrei Tschikatilo geschickt ein Geständnis zu entlocken. Tschikatilo, ukrainischer Ingenieur, hatte dreiundfünfzig Menschen umgebracht. Heute ist Kostojew russischer Parlamentsabgeordneter und setzt sich unermüdlich und unverblümt dafür ein, dass die Bewohner des Nordkaukasus größeren Respekt erfahren und die Bürgerrechte erhalten, insbesondere geht es ihm dabei um sein eigenes Volk der Inguschen, dessen Schicksal seiner Ansicht nach weithin unbekannt ist.

Kurz nach Kostojews Geburt erklärte Stalin öffentlich alle Tschetschenen und Inguschen zu Kriminellen, die mit den deutschen Eindringlingen kollaborieren würden – etwas, das sie ausdrücklich nicht getan hatten. Alle Inguschen – so auch Kostojews Mutter – wurden in Arbeitslager in Kasachstan zwangsdeportiert. Eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen dreht sich darum, wie russische Wachen zu Pferd seine Mutter auspeitschen, weil sie auf einem abgeernteten Feld Mais nachgesammelt hatte. Die Inguschen, so erklärt er düster, hassen alle Invasoren. Als Stalin starb und man den Inguschen widerwillig die Erlaubnis zur Rückkehr in ihre Heimat erteilte, mussten sie feststellen, dass man ihre Häuser den Osseten überlassen hatte, einem christianisierten Volksstamm von Besatzern aus dem Süden, Stalins ehemalige Handlanger. Was Kostojew aber am meisten aufbringt, ist die Art, wie der Durchschnittsrusse sein Volk diskriminiert:

»Ich bin Russlands Nigger«, schimpft er und zupft sich wütend an seiner asiatisch anmutenden Nase und den Ohren. »Ich kann auf den Straßen Moskaus jederzeit verhaftet werden, nur weil ich so aussehe!« Dann bemüht er ohne weitere Erklärung eine andere Metapher und behauptet, die Inguschen seien die Palästinenser Russlands: »Erst vertreiben sie uns aus unseren Städten und Dörfern, und dann hassen sie uns, weil wir überlebt haben.«

Wie wär’s, fragt er mich, wenn er eine Gruppe von Männern zusammenstellt und mich mit nach Inguschetien nimmt? Eine spontane Einladung, aber eine ernstgemeinte, wie ich schnell merke. Wir werden gemeinsam die Schönheit der Landschaft genießen und Inguschen treffen, dann kann ich mir eine eigene Meinung bilden. Mir schwirrt der Kopf, doch ich sage, ich würde mich geehrt fühlen, nichts würde mir mehr Freude machen, also geben wir uns darauf die Hand. Es ist 1993.

Die besten Verhörtechniker haben etwas Spezielles an sich, irgendeinen Charakterzug, den sie als Waffe im Überzeugungskampf einsetzen können. Manche geben sich als personifizierte Vernunft, andere verwirren ihre Gegenüber oder schüchtern sie ein; wieder andere versuchen, den zu Verhörenden mit blanker Offenheit und Charme einzuwickeln. Der große, äußerst zähe und eine tiefe Untröstlichkeit ausstrahlende Issa Kostojew jedoch weckt in seinen Mitmenschen auf Anhieb das Verlangen, ihm gefallen zu wollen. Doch scheint nichts, das man sagen oder tun könnte, die Aura von unendlicher Traurigkeit, die sich hinter seinem freundlichen, betagten Lächeln verbirgt, vertreiben zu können.

»Und bei Tschikatilo«, frage ich ihn, »was brachte da den entscheidenden Durchbruch?«

Kostojew schließt halb die Augen und seufzt leise. Er zieht kräftig an seiner Zigarette und antwortet: »Sein Mundgeruch. Tschikatilo hat die intimen Körperteile seiner Opfer verspeist. Im Laufe der Zeit griff das seine Verdauung an.«

Ein Funkgerät knistert.



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