Leib und Leben im Judentum by Robert Jütte
Autor:Robert Jütte [Jütte, Robert]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Religion & Glaube, Judentum
ISBN: 9783633542826
Google: wS7djwEACAAJ
Herausgeber: Juedischer Verlag
veröffentlicht: 2016-10-28T16:00:00+00:00
6 DER HINFÄLLIGE LEIB
»Judenkrankheiten«
Bis heute hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass Juden häufiger an bestimmten Krankheiten leiden und damit zu deren Verbreitung beitragen, wenn diese infektiös sind. Als 2011 in Deutschland ein gefährlicher Darmkeim (EHEC) bei zahlreichen Menschen Bauchschmerzen, Übelkeit, schweren Durchfall und bleibende Nierenschäden verursachte und 53 Menschen an den Folgen der Infektion starben, machte sich die Angst vor Ansteckung auch in einem antisemitischen Internetblog bemerkbar. Dort wurde die absurde Behauptung aufgestellt, dass es sich dabei um eine »Judenkrankheit« handele, die von den Juden eingeschleppt worden sei.1
Dass Juden angeblich mit besonderen Krankheiten geschlagen sind, ist ein Topos, der sich bereits in der Antike findet. Flavius Josephus (ca. 37-100) zitiert in seiner Schrift Über die Ursprünglichkeit des Judentums den thrakischen Herrscher Lysimachos (361/60-281 v. Chr.), der die Juden als ein Volk bezeichnete, das mit »Aussatz und Grind und sonstigen Krankheiten behaftet« sei (Contra Apionem 1:305).2
Wenn Juden auch noch in späterer Zeit mit einer Krankheit wie der Lepra in Verbindung gebracht wurden,3 so hängt dies nicht so sehr mit den vielzitierten biblischen Bestimmungen für den Umgang mit Personen, die an der Lepra (hebräisch zara'at) erkrankt waren, zusammen. Wirkmächtiger dürfte eine Behauptung gewesen sein, die der römische Schriftsteller Tacitus in die Welt gesetzt hatte, dass nämlich die Juden ursprünglich aussätzige Ägypter gewesen seien (Historien V, 3).4 Diese generalisierende Vorstellung machte sich die christlich geprägte antijüdische Polemik zu eigen. Der Kirchenvater Ambrosius von Mailand (339-397) beispielsweise warf den Juden vor, sie seien »habgierig und aussätzig und lüstern«.5 Ein antijüdisches Traktat eines Konvertiten, Francesco da Piacenza,6 das sich in einer Schrift des 17. Jahrhunderts über die Ahasveros-Legende in deutscher Übersetzung findet, listet eine Vielzahl von Krankheiten und Gebrechen auf, mit denen angeblich die Zwölf Stämme Israels für die Schmach, die sie Jesus Christus angetan hätten, bestraft werden.7
Doch nicht alle christlichen Theologen teilten diese negative Sicht auf den mit bestimmten, stigmatisierenden Krankheiten behafteten jüdischen Körper. 1643 schrieb der evangelische Theologe Johannes Buxtorf: »Viel Leuthe haltens dafür / die Juden leben länger dann die Christen / haben auch nicht allerley Kranckheyten vnder sich / wie die Christen.«8 Doch gleich im nächsten Satz relativiert er diese landläufige Meinung: »Die Erfahrung gibt aber dass sie gleich Jung sterben / alß andere Völcker: so erfahret man auch / daß sie die Kindsblatern / Rohtsucht / hinfallend Kranckheit / Pestilentz / und ander Kranckheiten / eben so wol vnder sich haben alß andere Völcker.« Buxtorf – obwohl kein Judenfreund – ist also überzeugt, dass Juden an den gleichen, damals gefürchteten Krankheiten (Pocken, Masern, Epilepsie, Pestilenz) sterben wie Christen. Ähnlich hatte sich bereits fast anderthalb Jahrhunderte vorher ein Konvertit, Antonius Magaritha, in seinem immer wieder aufgelegten Traktat über den jüdischen Glauben geäußert.9
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