Krypta: Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte (German Edition) by Hubert Wolf

Krypta: Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte (German Edition) by Hubert Wolf

Autor:Hubert Wolf [Wolf, Hubert]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406675485
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-01-30T16:00:00+00:00


Amt statt Nachfolge?

Das irische Mönchtum übernahm von den Anfängen der organisierten Askese in Ägypten die Sehnsucht nach Einsamkeit, nach der Wüste, die einen frei für Christus machen sollte. Im übertragenen Sinn suchten viele irische Mönche diese Wüste auf dem europäischen Festland, sie missionierten vor allem in Gallien und Germanien, die aus christlicher Perspektive Glaubenswüsten darstellten. Zahlreiche iro-schottische Wandermönche wurden zu wichtigen Missionaren. Neben Columban dem Jüngeren, gestorben um 615, der in Gallien das berühmte Kloster Luxeuil gründete, sind hier vor allem Kilian, gestorben 690 in Würzburg, Rupert, gestorben 720 in Salzburg, Emmeram, gestorben 720 in Regensburg, Korbinian, gestorben 725 in Freising, Gallus, gestorben 640 in Sankt Gallen, und Pirmin, gestorben 753, für die Reichenau zu nennen. Ihre Bedeutung für die Christianisierung der Germanen wurde lange Zeit unterschätzt, weil sie anders als Bonifatius, gestorben 755, nicht im römischen Auftrag wirkten. Der angelsächsische Apostel der Deutschen kam stärker als die iro-schottischen Mönche den römischen Vorstellungen von einer Bischofskirche entgegen.

Auch die irische Herkunft der «Ohrenbeichte», also des Gesprächs eines Beichtkindes mit seinem Beichtvater unter vier Augen, und ihre ursprünglich asketischen Voraussetzungen gerieten immer mehr in Vergessenheit. Die römische Kirche übernahm das irische Bußmodell weitgehend – mit dem Unterschied, dass jetzt jeder Priester aufgrund seiner Weihe die Beichte abnehmen konnte, ohne in der Nachfolge Jesu durch Fasten und Gebet besondere religiöse Leistungen erbracht zu haben.

Wie die Erinnerung an die irischen Beichtkonzepte wandelte sich auch das Bild des asketischen Gottesmannes Martin von Tours im Laufe der Zeit. Die Karolinger verehrten ihn zunächst als Kriegsheiligen, weil er vor seiner Bekehrung zum Christentum Soldat im römischen Heer gewesen war. Später trat die Mantelteilung immer mehr in den Mittelpunkt des Martinsbildes: Er wurde zum Heiligen der Caritas und der christlichen Nächstenliebe. Christliche und nichtchristliche Genießer hingegen schätzen den Asketen Martinus als Patron der Martinsgans; dann verehren ihn die Narren, weil an seinem Gedenktag, dem 11. November, die fünfte Jahreszeit beginnt, und schließlich die Kinder, weil sie ihm den Laternenumzug verdanken.

Die Erinnerung an den weltfremden Asketen, der durch Fasten und Gebet Höchstleistungen in der Nachfolge Jesu vollbracht hatte und deshalb die Vollmacht besaß, Wunder zu tun und sogar Tote zu erwecken, wurde innerhalb und außerhalb der Kirche bewusst ausgeblendet, wenn nicht sogar unterdrückt. Ein solcher vir Dei hätte das kriegerische Treiben der Karolinger genauso infrage gestellt wie das Schlemmen moderner Prasser oder das übersteigerte Amtsverständnis mancher geweihter Bischöfe.

Der Blick auf Martin von Tours und das iro-schottische Mönchtum zeigt, dass es in der Geschichte der katholischen Kirche jenseits der Vollmachten, die durch die Priester- und Bischofsweihe übertragen werden, Vollmachten gab, die ohne eine sakramentale Weihe durch die Radikalität der Nachfolge Christi erworben wurden und jene mitunter sogar übertrafen. Die Totenerweckung, von der Sulpicius Severus berichtet, geht eindeutig nicht auf das Konto der Weihegnade, sondern auf das intensive Beten und Fasten des heiligen Martin zurück. Die Fähigkeit, in der Nachfolge Christi Wunder zu tun, ließ laut Sulpicius Severus nach der Bischofsweihe überraschenderweise sogar drastisch nach.

Vielleicht noch wichtiger ist das iro-schottische Modell der Sündenvergebung, das letztlich auf den stellvertretenden asketischen Höchstleistungen der Mönche und Nonnen basiert.



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