Kraft by Lüscher Jonas

Kraft by Lüscher Jonas

Autor:Lüscher, Jonas [Lüscher, Jonas]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Erzählende Literatur
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2016-12-04T23:00:00+00:00


IX.

Der Mann machte sehr viel Wind. … O nein! wenn es noch Wind gewesen wäre, es war aber mehr ein wehendes Vakuum.

Georg Christoph Lichtenberg

Kraft spürt kühl und hart das Sicherheitsglas an seiner Schläfe. Wenn er die Augen schließt, versickert die endlose Kette roter Rücklichter im Dunkeln seines Schädels. Still ist es in Ivans Wagen. Sie haben kaum gesprochen, seit sie in Stanford losgefahren sind. Stockend, schleichend, unterbrochen von quälenden Minuten des totalen Stillstandes, bewegen sie sich in ihrer Zelle aus Blech, Glas und abgewetztem Leder durch das leuchtende Tal.

Ivan trommelt leise mit den Fingern aufs Lenkrad.

Keine vierundzwanzig Stunden ist es her, seit Kraft, nackt, die feuchte Erde des Marschlandes unter seinen Füßen, beim Anblick dieser Lichter, überwältigt von einer diffusen Schuld, zusammengebrochen ist.

Kraft hat es in den zehn Tagen, die er jetzt schon im Silicon Valley ist, gut vermeiden können, San Francisco zu besuchen, hat er doch im Lesesaal eine Aufgabe zu erfüllen, die mit jedem Tag der Tatenlosigkeit dringlicher wird, und einen Besuch in der Stadt im Nebel … nein, nein, dafür hat er keine Zeit. Aber heute kann er es nicht mehr vermeiden. Tobias Erkner hat geladen und mit seiner Million gewinkt, sodass sich Ivan und Kraft gegen Abend in den Geländewagen gesetzt und in den Strom der heimkehrenden Programmierer, Techies und Entrepreneurs eingereiht haben.

Es ist ein Schweigen zwischen ihnen. Seit jenem ersten Abend, als sie bei Schokoladenkuchen und Rotwein zusammengesessen sind, haben sie kaum mehr Zeit zu zweit verbracht, und die Nähe jener Tage, als sie gemeinsam dem Führer der freien Welt bei dessen erstem Berlin-Besuch zugejubelt hatten, hat sich keineswegs wieder eingestellt, und ein Unbehagen macht sich in dieser Lücke breit. Kraft wirft einen Seitenblick auf seinen Freund. Sicher, sie sind nicht mehr Mitte zwanzig, und diese Art der Freundschaft, das weiß Kraft, ist für Männer in ihrem Alter keine Option mehr; nur wer noch nicht allzu viel Beschämendes erlebt hat, kann in der Vorstellung leben, einen Freund zu haben, mit dem man alles teilen kann, sei eine schöne Sache. Aber immerhin, so erinnert sich Kraft, war es István, der ihn, nach Johannas Verschwinden, aus seinem Zustand der Verwirrung und Selbstauflösung erlöst hatte, und wenn er, Kraft, einer wäre, der großzügig den Anteil anderer an der eigenen Biographie anerkennen könnte, dann wäre das jetzt der richtige Moment, sich einzugestehen, dass kein anderer Mensch je einen vergleichbaren Einfluss auf sein Leben gehabt hat wie der Hemdenwäscher Pánczél. Aber Kraft ist kein großzügiger Mensch, nie gewesen. Nicht etwa aus Hartherzigkeit. Nein, weil er sich selbst als jemanden sieht – immer schon gesehen hat –, der anderen nicht viel zu geben hat. Und deshalb überkommt ihn jetzt doch eine starke Rührung, und er muss sich schnell wegdrehen und wieder aus dem Fenster starren. Würden wir jetzt auf der Rückbank sitzen, könnten wir Zeuge werden, wie sie sich beide gleichzeitig eine Träne aus dem Augenwinkel wischen; der eine routiniert, der andere verstohlen.

Kraft hatte sich, nachdem Johanna, zwei riesenhafte, schwere Koffer in den Händen, die Tür hinter sich ins Schloss geworfen



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