Knochenlese by Kathy Reichs

Knochenlese by Kathy Reichs

Autor:Kathy Reichs
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2011-11-17T23:00:00+00:00


15

Um sieben am nächsten Morgen fuhr ich durch den asphaltierten Bauch von Montreal. Über mir erwachte und streckte sich die Stadt. Der Ville-Marie-Tunnel um mich herum war so grau wie meine Stimmung.

Quebec erlebte eben eine der seltenen Hitzewellen im Frühling. Als ich gegen Mitternacht zu Hause angekommen war, zeigte das Thermometer auf meiner Terrasse noch immer deutlich über fünfundzwanzig Grad, und in der Wohnung fühlte es sich an wie neunhundert.

Der Klimaanlage war meine Vorliebe für kühles Schlafen völlig gleichgültig. Nach zehn Minuten Knöpfedrücken, Hämmern und Fluchen war sie noch immer nicht angesprungen. Schwitzend und wütend hatte ich schließlich alle Fenster geöffnet und war ins Bett gefallen.

Auch den Jungs auf der Straße waren meine Bequemlichkeit und mein Schlafbedürfnis ziemlich egal. Ein Dutzend von ihnen feierten auf der hinteren Veranda einer Pizzabude, zehn Meter von meinem Schlafzimmerfenster entfernt. Schreien konnte ihre Partystimmung nicht dämpfen. Oder Drohungen. Oder Flüche.

Ich hatte schlecht geschlafen, mich unter schlaffen Laken hin und her geworfen und war immer wieder von Gelächter, Singen oder wütenden Ausbrüchen geweckt worden. Den Morgen hatte ich mit stechenden Kopfschmerzen begrüßt.

Das Bureau de Coroner und das Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale befinden sich in einem dreizehnstöckigen Glas- und Beton-T in einem Viertel östlich von Centre-Ville. Mit der Provinzpolizei, der Sûreté du Québec, als Hauptnutzer hatte sich im Lauf der Jahrzehnte für das T der Name SQ-Gebäude eingebürgert.

Vor einigen Jahren hatte das Gouvernement du Quebec beschlossen, mehrere Millionen in Strafverfolgung und Forensik zu pumpen. Das Gebäude wurde restauriert, das LSJML wurde vergrößert und zog aus dem fünften in den zwölften und dreizehnten Stock, in Räume, die früher als Arrestzellen gedient hatten. In einer offiziellen Zeremonie wurde der Turm als Édifice Wilfrid-Derome wieder geboren.

Alte Gewohnheiten sind schwer auszurotten. Für die meisten bleibt es das SQ-Gebäude.

Ich verließ den Tunnel bei der Molson-Brauerei, fuhr unter der Jacques-Cartier-Brücke hindurch, sauste über die de Lorimer und schlängelte mich dann durch ein Viertel, in dem weder die Straßen noch die Bewohner schön waren. Dreistöckige Mietshäuser mit briefmarkengroßen Vorgärten und metallenen Wendeltreppen an der Frontseite. Graue Steinkirchen mit silbernen Türmchen. Depanneurs an den Straßenecken. Ein paar Geschäfte mit Schaufenstern. Das Wilfrid-Derome/SQ-Gebäude, das alles überragte.

Nach zehn Minuten Suche fand ich einen Parkplatz, der offensichtlich, dank eines bürokratischen Schlupflochs, legal war, ohne Sondergenehmigung und für die ganze Zeit, die ich hier zu parken beabsichtigte. Ich las noch einmal die monatlichen, stündlichen und täglichen Einschränkungen, parkte ein, nahm Laptop und Aktentasche und ging den Block hoch. Kinder strömten zu zweit und zu dritt in eine nahe Schule, wie Ameisen, die von einer schmelzenden Eiskugel angelockt werden. Frühankömmlinge tummelten sich auf dem Spielplatz, kickten Bälle, übten Seilspringen, schrien oder jagten einander. Ein kleines Mädchen spähte durch das schmiedeeiserne Gitter, die Finger um die Längsstangen geklammert wie das Kind in Chupan Ya. Sie beobachtete mich mit ausdruckslosem Gesicht.

Ich beneidete sie nicht um die nächsten sechs Stunden, so eingesperrt in einem heißen Klassenzimmer, die Sommerferien noch einen ganzen Monat entfernt.

Ich beneidete aber auch mich nicht um den Tag, der vor mir lag.

Ich hatte keine große Lust auf einen mumifizierten Schädel.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.