Kleines Lexikon intimer Städte by Andruchowytsch Juri

Kleines Lexikon intimer Städte by Andruchowytsch Juri

Autor:Andruchowytsch, Juri [Andruchowytsch, Juri]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Insel Verlag
veröffentlicht: 2016-09-12T16:00:00+00:00


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[1] Taras Hryhorowytsch Schewtschenko, ukrainischer Nationaldichter

MINSK, 2000

In Minsk war es unglaublich sauber. Mit dieser Aussage wollte ich niemanden in Erstaunen versetzen: Kaum kommt die Rede auf Minsk, sind sich auch schon alle einig, dass es außergewöhnlich sauber ist. Ja, es ist sauber – sauber als Erscheinung. Wir gerieten zu einer Zeit in diese unaussprechliche Sauberkeit hinein, als der Sommer sich seinem Höhepunkt näherte. Mitte Juli kam es uns wirklich vor, als seien wir in der Sonnenstadt gelandet, gewissenhaft gesäubert und auf leere Art und Weise ideal.

Das Hotel »Belarus« liegt in der Nähe des Komsomol-Sees und der Straße der Kommunisten. Auf welcher Etage habe ich gewohnt? Nehmen wir einmal an, auf der fünfzehnten. Wenn ich um sechs Uhr morgens zurück in mein Hotelzimmer kam, hatten sich die Hotelflure endlich ein bisschen geleert. Ich konnte praktisch ohne Hindernisse zu meinem Zimmer gelangen. Mein eigenes Schwanken zählt hier nicht.

Die Flure des Hotels »Belarus« füllten sich jeden Abend mit Prostituierten. Es war äußerst schwer, einen solchen Flur zu durchqueren. Als ob man sich durch eine entsetzlich klebrige Masse dick parfümierten Teigs wühlen müsste. Die Prostituierten im Hotel »Belarus« waren komischerweise alle groß und gut beisammen, man könnte sie auch feist oder stämmig nennen. Diejenigen, die sie mit Arbeit versorgten, konnte man kaum widernatürlicher Gelüste verdächtigen. Unnötig zu betonen, dass sie parallel dazu alle auch für den KGB arbeiteten.

Jeder Person männlichen Geschlechts, die sich unbedacht im Hotelflur zeigte, trugen sie aktiv ihre Freundschaft an. Das Hotel »Belarus« ist eines von wenigen. In dem Sinne, dass dort wenige Ausländer absteigen. Und jetzt kamen wir – an die hundert Ausländer auf einmal. Kein Wunder, dass sie nach unseren Händen griffen und uns gegen die Flurwände drückten. Die meisten träumten wahrscheinlich davon, einen dieser ausländischen Schriftsteller zum Mann zu bekommen.

Ich zweifle nicht an ihrer Sauberkeit. Vielleicht spülte der Schichtleiter bei der abendlichen Musterung persönlich jede von ihnen mit einem eisigen Strahl aus dem Gartenschlauch ab: Als sie mich in die letzte Ecke gedrängt hatten und mir ganz nahe kamen, spürte ich krankhaft deutlich die Gerüche von Haushaltsseife und dem Parfüm »Rotes Moskau«.

Bis heute weiß ich nicht, wie ich es schaffte zu entkommen. Bevor ich mich auf dem ungemachten Hotelbett für anderthalb Stunden aufs Ohr legte, rauchte ich auf dem Balkon glücklich gleich zwei Zigaretten hintereinander. Die Sonne erhob sich über der Sonnenstadt.



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