King, Stephen by Boeser kleiner Junge

King, Stephen by Boeser kleiner Junge

Autor:Boeser kleiner Junge
Die sprache: deu
Format: mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


7

McGregor führte Bradleys Klienten zum Mittagsappell in die Tiefen des Nadelpalasts, versprach jedoch, ihn bald zurückzubringen.

»Ich kann Ihnen eine Suppe und ein Sandwich bringen, wenn Sie möchten«, bot McGregor dem Anwalt an. »Sie haben sicher Hunger.«

Bradley hatte keinen Hunger. Nicht nach dieser Geschichte.

Er wartete auf seiner Seite der Plexiglasscheibe, die Hände über dem Notizblock gefaltet, und dachte über das Zerstören von Leben nach. Von den beiden Fällen, mit denen er hier zu tun hatte, war Hallas’ Schicksal leichter zu akzeptieren, schließlich war der Mann eindeutig verrückt. Bradley war sich sicher: Hätte Hallas den Mut gehabt, diese Geschichte auf der Anklagebank vorzutragen – im gleichen nüchternen Ton, als wäre jeder Zweifel ausgeschlossen –, würde er nun in einer der beiden Hochsicherheitspsychiatrien des Bundesstaats sitzen und nicht darauf warten, nacheinander Natriumthiopental, Pacuroniumbromid und Kaliumchlorid injiziert zu bekommen. Den »Goodnight, Irene«, wie die Insassen des Nadelpalasts jenen tödlichen Cocktail bezeichneten.

Hallas, der höchstwahrscheinlich nach dem Verlust des eigenen Kindes völlig den Verstand verloren hatte, war zumindest ein halbes Leben vergönnt gewesen. Auch wenn es ein unglückliches gewesen war, beherrscht von paranoiden Vorstellungen bis hin zu ausgewachsenem Verfolgungswahn. Doch um es einmal so auszudrücken – ein halbes Leben war besser als gar keines. Der Fall des kleinen Jungen schien da weitaus tragischer zu sein. Dem Gerichtsmediziner zufolge war dieses Kind, das sich zur falschen Zeit auf dem Barnum Boulevard befunden hatte, höchstens zehn Jahre alt gewesen, wahrscheinlich eher acht. Das war noch kein Leben, bestenfalls der Prolog dazu.

McGregor brachte Hallas zurück, kettete ihn an den Stuhl und fragte, wie lange es wohl noch dauern würde. »Er wollte nichts essen, aber ich könnte schon was vertragen.«

»Nicht mehr lange«, sagte Bradley. Eigentlich hatte er nur noch eine einzige Frage, und er stellte sie, sobald Hallas sich gesetzt hatte.

»Wieso gerade Sie?«

Hallas hob die Augenbrauen. »Wie bitte?«

»Wieso hat sich dieser Dämon – denn dafür halten Sie ihn ja wohl – gerade Sie ausgesucht?«

Hallas lächelte. Eigentlich verzog er nur die Lippen. »Also, das ist eine reichlich naive Frage, oder? Sie könnten genauso gut fragen, wieso ein Baby mit einer missgebildeten Hornhaut geboren wird, wie etwa Ronnie Gibson, und die nächsten fünfzig Kinder, die im selben Krankenhaus zur Welt kommen, kerngesund sind. Oder warum ein guter Mensch, der ein anständiges Leben geführt hat, mit dreißig an einem Gehirntumor stirbt, während ein Scheusal, das die Gaskammern von Auschwitz beaufsichtigt hat, über hundert Jahre alt wird. Auf die Frage, warum guten Menschen schlimme Dinge widerfahren, werden Sie an diesem Ort hier bestimmt keine Antwort bekommen.«

Du hast sechs Mal auf ein unschuldiges Kind geschossen, dachte Bradley. Die letzten drei oder vier Schüsse erfolgten aus nächster Nähe. Wie um alles in der Welt kannst du dich als guten Menschen bezeichnen?

»Darf ich Ihnen denn noch eine Frage stellen, bevor Sie gehen?«

Bradley wartete.

»Haben ihn die Behörden mittlerweile identifiziert?«

Hallas fragte dies im lässigen Gesprächston eines Gefangenen, der nur plaudern wollte, um die Zeit, die er nicht in seiner Zelle verbringen musste, etwas zu verlängern. In seinen Augen jedoch war zum ersten Mal seit Beginn dieser langen Unterredung so etwas wie echtes Interesse zu erkennen.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.