Kind, versprich mir, dass du dich erschießt: Der Untergang der kleinen Leute 1945 (www.boox.bz) by Florian Huber
Autor:Florian Huber [Huber, Florian]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783827077882
Herausgeber: eBook Berlin Verlag
veröffentlicht: 2015-02-15T23:00:00+00:00
Fackeln im Winter, Veilchen im März
»Ich habe keine großen Sensationen von diesem Datum zu berichten, denn ich habe es nicht in Berlin, sondern in Süddeutschland erlebt.« Ohne Pathos beschrieb der in Frankfurt am Main geborene und in München aufgewachsene 30-jährige Auslandsschweizer René Juvet den 30. Januar 1933, dem zum »Tag der nationalen Erhebung« stilisierten Datum von Hitlers Machtantritt. Er schrieb darüber zehn Jahre später, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Zwar verbarg er alle Namen hinter Pseudonymen, doch nannte er seinen Text einen »Tatsachenbericht«. Es ging ihm um das Verhalten, die Worte und Gesten der Deutschen. Er wollte zeigen, wie die Phasen der nationalsozialistischen Herrschaft auf seine Kollegen in der Maschinenfabrik wirkten. Er wollte in die Köpfe der Deutschen blicken, mit denen er zwanzig Jahre lang zu tun hatte. Obwohl er Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht hatte, empfand er sich nie als zugehörig. Er sprach als Schweizer, der beiseitesteht.
Der 30. Januar 1933 ging an seinem Betrieb in Augsburg vorbei. Keine neuen Braunhemden, einzig die alten NSDAP-Kollegen wie Neder und Hofmann trugen ihre Abzeichen emailglänzend vor der Brust. »Im allgemeinen war die Begeisterung bei uns nicht groß, viele waren beklommen und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Die Arbeiter waren ausgesprochen bedrückt.«
In weiten Teilen Deutschlands änderte die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zunächst wenig an der abwartenden Skepsis. Zu viele Regierungen hatten die Menschen kommen und gehen sehen. Zu drückend regierte das Elendsgespenst der Wirtschaftskrise. In der Hauptstadt Berlin war der Regierungswechsel dagegen mehr als eine bloße Radiomeldung oder Zeitungsschlagzeile. Hier wurde er zum Erlebnis für alle Sinne. Die Anhänger des neuen Kanzlers fanden den Weg in die Innenstadt zur ersten Siegesparade ihrer Bewegung.
Ilse Cordes aus Berlin-Friedenau ging mit ihrem Sohn zum Fackelzug im Tiergartenviertel. Es sollte für sie der Tag der deutschen Schicksalswende sein. Elf Jahre war Hermann-Friedrich alt. Er hatte bereits vieles am eigenen Leib erlebt. Die zerrende Vergeltungswut der Kriegsveteranen, die Trauer und den Hass, den Hunger und die Hoffnungslosigkeit. Von klein an hatte er seinen Eltern beim Scheitern zugesehen, was den Vater in die Trinkerei führte und die Mutter in die Depression. Zwei Inseln der Hoffnung waren Ilse Cordes geblieben, an die sie sich klammerte: das große Vaterland und der kleine Sohn. Eins verknüpfte sie mit dem anderen. Sie sorgte dafür, dass Hermann in Friedenau ein nationalistisches Gymnasium besucht. Sie begrüßte es, als er sich 1931 zur »Freischar Junger Nation« meldete. Sie ließ ihn mithelfen im nationalsozialistischen Wahlkampf, auch wenn dabei Männer aufeinander einprügelten. In ihn legte sie ihre Zuversicht.
In unendlich scheinenden Kolonnen marschierte am 30. Januar der Bandwurm der Braunhemden der SA und der Grauhemden des Frontsoldatenbundes »Stahlhelm« vorbei. Dunkel schlugen die Absätze aufs Pflaster. Hell leuchteten die Fackeln in die frostige Januarnacht. Ilse und Hermann-Friedrich drängten sich unter die Neugierigen, die dicht an den Straßen standen. Viele schrien und sangen die Marschlieder mit. Ilse Cordes spürte, wie auch in ihr die Freude und Erleichterung aufstieg.
Alles lacht, strahlt, jubelt. Es ist, als ob eine Zentnerlast von der Brust all dieser Menschen genommen sei. Das Bedrückende der Hoffnungslosigkeit, der Unabsehbarkeit der Arbeitslosigkeit ist von ihnen gewichen.
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