Judentum und Arbeiterbewegung by Markus Börner Anja Jungfer Jakob Stürmann
Autor:Markus Börner, Anja Jungfer, Jakob Stürmann
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Walter de Gruyter
veröffentlicht: 2018-03-15T00:00:00+00:00
1917 und das Bekenntnis zum Westen
In den Interviews und Gesprächen, die mit Löwenthal in den 1970er und 1980er Jahren vermehrt geführt wurden, kam er immer wieder auf die âweltkommunistisch-politische[â¦] Enthusiasmuswelleâ905 zu sprechen, mit der er und viele andere spätere Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung die Russische Revolution 1917 begrüÃten. Diese Welle der Begeisterung lief nicht einfach aus, sie wurde durch die Entwicklungen in der Sowjetunion grausam gebrochen. Was Löwenthal zunächst als eine âBefreiungstat für die Menschheitâ906 erlebte, sollte sich recht bald in âwohl eines der grössten Traumata und Enttäuschungen, Desillusionenâ907 entwickeln. Im Gespräch mit Adelbert Reif konstatierte er:
[W]ahrscheinlich wären die groÃen Heroen des historischen Materialismus alle nach Sibirien geschickt worden oder umgebracht worden, wenn sie überlebt hätten und die Möglichkeit gehabt hätten, [â¦] die sowjetische Herrschaft zu kritisieren. â Und das ist ja auch so gewesen, ich brauche ja nur Namen wie: Radek, Bucharin und alle die zu nennen, die ja gläubige und wissenschaftlich fundierte Marxisten waren und dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten [â¦].908
Auch wenn sich nicht bei allen Institutsmitarbeitern bis zum Ende der 1930er Jahre eine derartige Ernüchterung einstellte, stellte sie sich doch irgendwann bei ihnen allen ein; selbst bei jenen, die wie Karl August Wittfogel noch 1937/1938 versuchten, die Moskauer Prozesse zu rechtfertigen. So erinnerten sich Löwenthal und Pollock ganz unabhängig voneinander an die Reaktion Wittfogels auf die Bemerkung Horkheimers im Jahr 1938, er hielte ein Bündnis zwischen Hitler und Stalin für möglich. Wittfogel sprang damals wütend vom Mittagstisch im New Yorker Tip Toe Inn auf, warf seine Serviette auf den Tisch und verlieà das Restaurant noch ohne zu bezahlen. Als Pollock sich diese Situation elf Jahre später ins Gedächtnis rief, äuÃerte er sich in einem Brief an Wittfogel sehr glücklich darüber, dass inzwischen auch dieser den wahren Charakter des stalinistischen Regimes erkannt hatte.909 Und so war zu Beginn des Kalten Krieges nicht nur für Löwenthal âder Traum an das Proletariat als einen Träger einer gesellschaftlichen Veränderung [â¦] längst ausgeträumtâ910 . Sie alle wussten, âdaà die Sowjetunion weià Gott nicht die Vorhut einer revolutionären gesellschaftlichen Veränderung seinâ911 konnte. Löwenthal wünschte daher, nicht auf einen Begriff festgelegt zu werden, âder von der Geschichte so korrumpiert worden istâ912 , wie der des Sozialismus. Dies bedeutete jedoch nicht, dass er sich von seiner jugendlichen Begeisterung für die Russische Revolution im Laufe der Zeit distanzierte oder aber diese verleugnete â nicht einmal, als er sich Anfang der 1950er Jahre im Zuge seiner Tätigkeit für die Voice of America erneut einer Sicherheitsbefragung ausgesetzt sah. Gleich zweimal kam er in seinem autobiographischen Gespräch Mitmachen wollte ich nie auf diese Befragung zu sprechen. Beide Male erinnerte er sich an seine Reaktion auf die Frage des Untersuchungsbeamten, ob er jemals Sympathien für die Sowjetunion gehabt habe:
Das habe ich dann entschieden mit Ja beantwortet, und er fiel fast vom Stuhl. Er hat mich dann noch einmal gefragt, ob ich ihn auch richtig verstanden hätte. Ich sagte ihm, er hätte falsch gefragt. Ich hätte in der Tat groÃe Sympathien für die russische Revolution 1917 gehabt, und jeder
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