Jesabel by Némirovsky Irène

Jesabel by Némirovsky Irène

Autor:Némirovsky, Irène [Némirovsky, Irène]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Knaus
veröffentlicht: 2015-04-29T16:00:00+00:00


9

Zu Beginn des Krieges befanden sich Gladys und ihre Tochter in Paris und die Beauchamps in der Schweiz. Vor seiner Abreise an die Front konnte Olivier durch Paris kommen und Marie-Thérèse sehen. Es wurde Herbst, und Gladys kehrte nach Antibes zurück.

Nie war das Wetter so schön und nie waren die Rosen so frisch gewesen. Sans-Souci war leer, die männlichen Bediensteten waren eingezogen, die Wagen und die Pferde beschlagnahmt. Jeden Tag seufzte Gladys:

«Wir müssen weg … Was tun wir hier?»

Aber sie wurde von Georges Canning zurückgehalten. Sie hatte Zuneigung zu ihm gefaßt: er war schön und gefiel ihr. Sie hatte Mark vergessen; sie hatte Beauchamp vergessen, wie nur Frauen es zu tun vermögen, unter Mühen zwar, aber vollständig. Anscheinend hatte sie sogar Olivier vergessen. Zu Beginn des Krieges hatte Marie-Thérèse wieder von ihrer Heirat gesprochen, aber Gladys hatte nicht einmal antworten wollen. Eilends war sie von Paris nach Deauville gezogen, und bei ihrer Rückkehr war Olivier an der Front. Sie nahm Marie-Thérèse kaum wahr. Zwar sprach sie sanftmütig mit ihr, wie sie es immer getan hatte, und gab ihr zärtliche Namen, aber sie blickte durch sie hindurch, ohne sie zu sehen, da sie nur an Canning dachte, an sich selbst, an ihr eigenes Glück. Sie liebte ihre Tochter; sie hatte sie immer geliebt, aber auf jene kapriziöse, frivole Art und Weise, wie sie alle Dinge liebte. Ihre unbeständige Zärtlichkeit wurde von langen Momenten der Gleichgültigkeit unterbrochen. Sie war ihr dankbar dafür, daß sie den Namen Olivier nicht mehr in den Mund nahm, jenes Netz aus Illusionen nicht zerstörte, ohne das sie nicht hätte leben können.

Indessen konnte Marie-Thérèse in ihren Augen noch immer als Kind gelten. Marie-Thérèse hatte sich seit dem Herbst verändert: Sie war reifer geworden, weiblicher, noch mager, aber mit sanfteren, matteren Bewegungen; ihr junges Gesicht hatte seinen Ausdruck von Reinheit und Furchtlosigkeit verloren, ihre Haut war weicher und blasser, und sie hatte ihr schönes Haar hochgesteckt.

Im Oktober erhielt Gladys einen Brief von Beauchamp, der ihr Oliviers Tod mitteilte: Er war an der Front gefallen. An diesem Abend war Gladys allein. Lange blieb sie auf der kleinen Terrasse sitzen, den Brief in Händen. Es war ein ruhiger, windstiller Abend. Schließlich erhob sie sich mit einem Seufzer und klopfte an die Tür ihrer Tochter. Marie-Thérèse lag im Bett. Gladys trat zu ihr und legte ihr sanft die Hand aufs Haar.

«Liebling», fragte sie, «schläfst du? Ich sah, daß du das Licht gelöscht hast, als ich hereingekommen bin.»

«Ich schlafe nicht», sagte Marie-Thérèse.

Sie hatte sich mit dem Ellbogen auf ihr Kissen gestützt und sah ihre Mutter beunruhigt an, wobei sie ihr offenes Haar, das ihr in die Stirn fiel, beiseite schob.

«Liebling, mein kleines Mädchen, du wirst einen Kummer haben, der dir sehr groß, unvergeßlich vorkommen wird, aber es wird vergehen, Liebling, du wirst sehen, es geht vorüber. Der arme kleine Olivier ist tot.»

Ohne ein Wort, ohne eine Träne ergriff Marie-Thérèse den Brief, den ihre Mutter ihr reichte, las ihn, dann sanken ihre Hände auf das Laken zurück. Sie krümmte ihre Finger so stark, daß Blut unter den Fingernägeln hervorquoll.



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