Jemand Anders by Franz Kabelka

Jemand Anders by Franz Kabelka

Autor:Franz Kabelka
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


5. April 2010

Der Morgen beginnt mit einer Verweigerung: Ich lasse eine Bibelforscherin, die sich mit mir über die Bedeutung der Religion unterhalten möchte, nicht in die Wohnung.

„Nichts für ungut“, sage ich so freundlich ich kann, denn der geflochtene Zopf der Frau erinnert mich an meine Oma, „aber wir wollen doch nicht riskieren, dass Ihre Glaubensgewissheit erschüttert wird. Wäre doch schade drum, oder?“

Sie lächelt mich an. „Glauben Sie wirklich, Sie könnten das schaffen?“

„Nein, wahrscheinlich eh nicht.“

Ich schließe die Tür vor ihrer Nase. Immerhin darf ich mich brüsten, einer Zeugin Jehovas ein Lächeln entlockt zu haben.

*

Der Tod der beiden lässt mir keine Ruhe.

Bei allen Unterschieden hatten sie doch das gemein: sich beweisen zu müssen, wie gut sie waren. Wie fit. Der eine mit der Langhantel, der andere auf dem Ergometer. Zwei Fünfzigjährige, die nicht lockerlassen konnten.

Wie Johannes Reichert vom Rad fällt, sieht fast komisch aus; quasi in Zeitlupe kippt er vom Sattel auf den Boden. Auf dem Video ist zu erkennen, dass unsere Leute professionell reagieren. Gleich sind ein paar bei ihm und bringen ihn in stabile Seitenlage. Als sie merken, was mit ihm los ist, beginnen sie mit der Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage. Ich schau mir das Band jetzt schon zum dritten Mal an. Regina meint, ich solle es endlich gut sein lassen.

„Wozu quälst du dich? Dem kann niemand mehr helfen!“

Aber ich quäle mich doch nicht, ich will mich nur ... orientieren. Besonders jene Szene spiele ich vor und zurück, wo ich an der Bar stehe, neben mir der noch quicklebendige Johannes Reichert. Sein Lachen wirkt geisterhaft. Einerseits, weil kein Ton mitaufgezeichnet wurde, andererseits, weil es der letzte Blick auf sein Gesicht ist. Die Kamera, die sich direkt über der Theke befindet, hat seinen quergelegten Kopf unverhältnismäßig groß und perspektivisch verzerrt erfasst. Er grinst mich an, eine Hand verschwörerisch neben dem Mund. So, als wolle er vor anderen abschirmen, was er zu mir sagt. Worüber wir wohl gerade reden? Vielleicht hast du gesagt, er solle es nur nicht übertreiben, meinte Furat neulich, und dass ich Reichert auch früher schon ernsthaft ermahnt hätte. Aber danach sieht es ganz und gar nicht aus. Eher erzählt er mir etwas Lustiges von sich – oder macht er sich über jemand anderen lustig? Laut Furat hat Reichert immer einen dummen Blondinenwitz auf Lager gehabt. In seiner Rechten hält er ein volles Glas. Er nimmt Schluck um Schluck daraus, bis das Glas leer ist.

Ich spule zurück. Reichert greift in eine kleine ovale Dose neben sich, entnimmt ihr zwei Kapseln, steckt sie sich in den Mund, spült nach. Beim Schlucken wirft er den Kopf zurück wie ein Vogel. Ein seltsamer Vogel.

Nochmals drücke ich die Rücklauftaste. Furat steht hinten an der dampfenden Gaggia, Reichert unterhält sich mit einem Mädchen rechts von ihm. Dort, wo ich ein paar Minuten später stehen werde, befindet sich noch niemand. Nur die ovale Dose ist zu erkennen, sie liegt unmittelbar neben Reichert auf dem schmalen Tresen.

Ich stelle mir die Szene mit Ton vor: das Pfauchen und Zischen der Espressomaschine; die angeregte Unterhaltung Reicherts mit dem



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