Isabella: Fragmente Ihrer Erinnerungen an Auschwitz by Isabella Leitner

Isabella: Fragmente Ihrer Erinnerungen an Auschwitz by Isabella Leitner

Autor:Isabella Leitner [Leitner, Isabella]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783473580934
Herausgeber: Ravensburger Buchverl.
veröffentlicht: 1999-01-31T23:00:00+00:00


Wieder sind wir in Reih und Glied unterwegs -das jämmerliche Tausend abzüglich der wenigen, die entkamen, der vielen, die starben -, zu Fuß, um die unendliche Entfernung nach Ber-gen-Belsen zurückzulegen. Unser jetziger Pakt wird nicht ausgesprochen, aber völlig akzeptiert. Jede der vier Schwestern hat nun (in der tiefen emotionalen Bedeutung des Wortes) die Freiheit, zu verschwinden, zu sterben, aufzugeben, zu leben. Die geringste Chance, einander moralisch oder körperlich zu helfen, hat aufgehört zu bestehen.

Der deutsche Osten ist im Januar bitterkalt. Es gibt einen Schneesturm. Rachel hustet stark. Am einen Fuß trägt sie einen aufgerissenen Lederschuh, am anderen einen holländischen Holz-

schuh. Im Schneesturm und mit den ungleichen Schuhen kann sie sich kaum vorwärts schleppen. Uns vieren fehlt ein Schuh, und die, die versucht, Rachel zu helfen, indem sie einen Schuh abgibt, wird die sein, die sterben muss. Früher haben wir immer eine Lösung gefunden - eine abnormale Lösung in einer abnormalen Situation zwar, aber doch eine Art Lösung. Diesmal schaffen wir es nicht: Auf eine von uns lauert der Tod. Was tun? Ist unser Überlebenswille diesmal stark genug, dass wir handeln, auch wenn es eine andere Lösung geben könnte? Wird uns der eigene Instinkt in Richtung Überleben führen? Wir wissen es nicht.

Wir marschieren in Fünferreihen durch den Schneesturm. Immer fünf in einer Reihe. Für uns vier war das ein besonderes Problem, weil es in der Verantwortung der Gefangenen lag, dass man zu fünft in der Reihe war. Also mussten wir immer ein Mädchen für unsere Reihe finden, das nirgendwo anders dazugehörte. Und wenn wir eine fanden, war es nie auf Dauer, denn früher oder später starb sie, wurde abtransportiert oder ins Krematorium geschickt, oder sie schloss sich jemand anderem an. Es war ein ständiger Kampf.

Aber jetzt laufen wir im Schneesturm eine stille, verlassene Straße entlang. Es gibt SS-Leute vorn, die führen die Kolonne an, auf beiden Seiten und ganz am Schluss. Wir sind gerade in dem kleinen Dorf Jagdschütz angekommen. Plötzlich bemerkt Chicha ein kleines Haus zu ihrer Rechten. Es ist schneebedeckt, und kein Rauch kommt aus dem Schornstein. Chicha läuft am Außenrand der Kolonne.

Rachel geht neben ihr, ich neben Rachel und Cipi neben mir. Die seitlichen Aufseher sind nach hinten gegangen, weil einige Gefangene geflohen sind. Bleiben nur die Aufseher an der Spitze, und die können uns von dort nicht sehen. Wie ein Blitz rast Chicha auf das Haus zu. Dann Rachel. Dann ich. Keiner überlegt. Es fällt kein Wort zwischen uns. Eine Schwester folgt der anderen.

Rachel und ich rennen zu einer kleinen Hundehütte hinter dem Haus und kriechen hinein. Alles ist still und verlassen. Tiefer Schnee bedeckt das Land. Die Szene weckt Erinnerungen an Weihnachten: »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.«

Ohne zu atmen, kauern wir zusammen in der Hundehütte. Um uns herum nur Stille und Angst. Wann werden sie uns töten? Wo sind sie?

Langsam und vorsichtig schieben wir uns hinaus. Wir kriechen hinter die Hundehütte. Wieder Stille. Wo ist Chicha? Wo ist Cipi? Stille. Nur Stille.

Plötzlich das Geräusch knisternden Schnees auf der Straße. Der Oberscharführer samt seinem Hund kommt vom Gemetzel zurück - wir haben die Schüsse gehört.



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