In Schopenhauers Gegenwart by Houellebecq Michel

Autor:Houellebecq, Michel [Houellebecq, Michel]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832189860
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 2021-03-13T16:00:00+00:00

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DAS WELTTHEATER

Viele der beeindruckendsten Metaphern Schopenhauers (und, ehrlich gesagt, der gesamten Literaturgeschichte) sind der Welt des Theaters entliehen. Auf der Theaterbühne ist die Welt als Vorstellung auf ihre einfachste Formel gebracht. Das vom Prinzip her unrealistische Bühnenbild kann nicht zum Gegenstand ästhetischer Betrachtung werden; es lässt sich ohne größere Konsequenzen streichen; und wo es existiert, hat es keine andere Funktion, als das wahre Thema des Theaterstücks in Szene zu setzen: den Widerstreit der Leidenschaften.

In diesem Zurückziehen in die Reflexion gleicht [der Mensch] einem Schauspieler, der seine Scene gespielt hat und bis er wieder auftreten muß, unter den Zuschauern seinen Platz nimmt, von wo aus er was immer auch vorgehen möge, und wäre es die Vorbereitung zu seinem Tode (im Stück), gelassen ansieht, darauf aber wieder hingeht und thut und leidet wie er muß.24

Dieses szenische Modell kommt immer dann zur Anwendung, wenn es darum geht, den künstlichen, symbolischen Charakter des Theaters herauszustellen, und tatsächlich haftet den auf der Vernunft gründenden Moralsystemen etwas leicht Artifizielles an. Auf den letzten Seiten des ersten Buches von Die Welt als Wille und Vorstellung befasst sich Schopenhauer mit jenen (den Stoikern), die die Moral und die Prinzipien der Lebensführung auf die Anwendung von Vernunft stützen wollten.Mit folgenden Zeilen schließt er seine Untersuchung ab:

Der oben erwähnte innere Widerspruch aber, mit welchem die Stoische Ethik, selbst in ihrem Grundgedanken, behaftet ist, zeigt sich ferner auch darin, daß ihr Ideal, der Stoische Weise, in ihrer Darstellung selbst, nie Leben oder innere poetische Wahrheit gewinnen konnte, sondern ein hölzerner, steifer Gliedermann bleibt, mit dem man nichts anfangen kann, der selbst nicht weiß wohin mit seiner Weisheit, dessen vollkommene Ruhe, Zufriedenheit, Glücksäligkeit dem Wesen der Menschheit geradezu widerspricht und uns zu keiner anschaulichen Vorstellung davon kommen läßt.25

Sein Negativurteil ist hier umso frappierender, als die Weisheiten, in denen Schopenhauers eigene Aphorismen zur Lebensweisheit münden, von jenen der Stoiker nicht allzu weit entfernt sind. Es stimmt, dass dieses die Möglichkeit eines glücklichen Lebens voraussetzende Werk auf einer gütlichen Einigung basiert und dass Schopenhauer, um es schreiben zu können, den »höheren, metaphysisch-ethischen Standpunkte, zu welchem meine eigentliche Philosophie hinleitet«26, gänzlich aufgeben musste. Dieser Abschnitt formuliert eine zweite, nicht weniger wichtige Einschränkung des Begriffs der »Lebensweisheit«. Es überrascht weiterhin das Argument, das hier zur Anwendung kommt: Was dem weisen Stoiker zum Verhängnis wird, was seine Existenz unwahrscheinlich macht, ist, dass sein Charakter einer poetischen Wahrheit entbehrt; kein Philosoph hatte die Poesie je zuvor so ernst genommen.

Es ist das Subjekt des Willens, d. h. das eigene Wollen, was das Bewußtseyn des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affekt, Leidenschaft, bewegter Gemüthszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewußt als Subjekts des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche, seelige Ruhe nunmehr in Kontrast tritt mit dem Drange des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Empfindung dieses Kontrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was überhaupt den lyrischen Zustand ausmacht.

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