Im dunklen Tal by Keller Julia

Im dunklen Tal by Keller Julia

Autor:Keller, Julia
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: Goldmann
veröffentlicht: 2013-12-19T05:00:00+00:00


26

Eine halbe Stunde später wurde sie von Nick durch die Wälder des ländlichen Hinterlands kutschiert, in einem schwarzen Chevy Blazer, auf dem auf beiden Seiten in kursiven gelben Buchstaben RAYTHUNE COUNTY SHERIFF’S DEPARTMENT stand. Darunter prangte das offizielle Wappen des Bezirks, ein weißer Kreis mit einer Skizze des Gerichtsgebäudes und den verschnörkelten Buchstaben: GEGRÜNDET 1863. Das war das Jahr, in dem West Virginia Bundesstaat geworden war. Regionale Geschichte war an Bells Highschool Pflichtfach gewesen, und so wusste auch sie, dass Harland Raythune ein General der Unionsstaaten mit extravagantem Schnauzbart und dichten Koteletten gewesen war, der Präsident Lincoln damit beeindruckt hatte, dass er schwindelerregende Verluste in den Reihen seiner Truppen hinnahm, ohne zu jammern oder auch nur mit der Wimper zu zucken. Als sich von dem bereits bestehenden Bundesstaat Virginia durch ein wenig Hokuspokus und verfassungswidrige Taschenspielertricks der neue Bundesstaat West Virginia abspaltete, erhielt General Raythune ein ansehnliches Stück Land für seine Mühen, was ihm die Namensrechte an dem Bezirk verschaffte, in dem es sich befand.

Nick saß am Steuer und Bell auf dem Beifahrersitz. Charlie Mathers hatte sie begleiten wollen – nicht auf dem Rücksitz, was ein herber Schlag gegen seine Würde gewesen wäre, sondern in seinem eigenen Wagen –, aber der Sheriff hatte sein Veto eingelegt. »Ich brauche keine verdammte Kohorte«, war der genaue Wortlaut seiner geknurrten Antwort, gefolgt von: »Du musst für mich hier vor Ort die Stellung halten, Charlie.« Der Deputy hatte genickt. Diese Aufgabe war nicht zu unterschätzen, denn es schnüffelten immer noch einige seltsame Gestalten in Acker’s Gap herum, unwiderstehlich angezogen von dem ungelösten Dreifachmord. Die üblichen Mitläufer, wenn sich irgendwo eine öffentliche Tragödie ereignete.

Der Sheriff fuhr so schnell er konnte, aber die Straßen waren mit Schlaglöchern gespickt und erlaubten kein besonders hohes Tempo. Die Regenfälle am Vormittag hatten sämtliche Vertiefungen im Asphalt mit schwarzem Wasser gefüllt, und der Chevy Blazer bahnte sich rumpelnd und spritzend seinen Weg.

Sie passierten baufällige Bretterbuden vor bröckelnden Abhängen, magere Pferde und dürre Ziegen, gleichmütig dreinblickende Kühe auf kleinen verwahrlosten Weiden. Sie kamen an Billighäusern aus Kunststoffplatten vorbei, an deren mit Sperrholz vernagelten Fenstern Zwangsvollstreckungsbescheide im Wind flatterten.

Das gemeindefreie Gebiet von Raythune County war immer arm gewesen, schon solange die Leute denken konnten. Jahrzehntelang war die Armut in dieser Region der Normalzustand gewesen, tief verwurzelt, genauso charakteristisch für die Landschaft wie Flüsse oder Berge. In letzter Zeit hatte das Elend jedoch eine neue, verzweifelte Dimension angenommen. Familien, die bisher gerade so über die Runden gekommen waren, schafften nun nicht einmal mehr das. Im letzten Winter hatte ein älteres Ehepaar alles, was es irgendwie hatte ergattern können, in seinem Kamin verfeuert und war verbrannt, weil die Flammen auf das Haus übergegriffen hatten. Und in diesem Herbst war ein sechsjähriger Junge im ländlichen Raythune County an Unterernährung gestorben. Er hatte gerade noch fünfzehn Kilo gewogen. »Dieses Kind«, hatte Nick zu Bell gesagt, als er ihr davon erzählt hatte, und der Kummer in seinem Blick war noch von seiner ungläubigen Wut übertroffen worden, »ist verhungert. In den Vereinigten Staaten von Amerika. Im gottverdammten einundzwanzigsten Jahrhundert.



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