Hirnforschung. Das Abenteuer unseres Bewusstseins by Frankfurter Allgemeine Archiv
Autor:Frankfurter Allgemeine Archiv
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlag
veröffentlicht: 2012-10-26T00:00:00+00:00
Ist das Gehirn ein Rechenmuskel?
Hält Mathematik jung? Wer diese Frage bejaht, muss vom Bild des Gehirns als eines Computers abgehen, denn Rechenmaschinen werden nicht dadurch langlebiger, dass man sie benutzt.
Von Jürgen Kaube
Was ist eine Zahl, dass ein Mensch sie kennen kann, und ein Mensch, dass er eine Zahl kennen kann?“, hat der amerikanische Neurophysiologe Warren McCulloch vor mehr als vierzig Jahren in einem Aufsatz gefragt. Seine Antwort war: Der wissende Mensch ist eine Rechenmaschine, sein Gehirn ein Computer, der Eingaben addiert und die sich ergebenden Summen mit festgesetzten Schwellenwerten vergleicht. Für jeden denkbaren Gedanken, so hat das der Bochumer Technikhistoriker Erich Hörl gerade in einem äußerst lesenswerten Text über die Vorstellung vom Gehirn als Rechner zusammengefasst, sollte sich McCulloch zufolge ein zugehöriges neuronales Netz entwerfen lassen, das ihn, den Gedanken, „schaltete“ („Das kybernetische Bild des Denkens“ in dem von Michael Hagner und Erich Hörl herausgegebenen Band „Die Transformation des Humanen“, Frankfurt am Main 2008).
Aber die Analogie hat Grenzen. Eine Rechenmaschine müsste man beispielsweise nicht benutzen, um sie funktionsfähig zu halten. Dem Denkvermögen hingegen, um einmal nicht vom Gehirn zu sprechen, nützt es, wenn es beansprucht wird. Und dem menschlichen Rechenvermögen auch. Die Erfindung des Computers selber aber und Technik überhaupt haben dafür gesorgt, das Gehirn von Rechenarbeit zu entlasten. Wir lassen rechnen.
Der Erfolg von Sudoku und „Dr. Kawashimas Gehirn-Jogging“, einem computerisierten Test mit Denksport- und Rechenaufgaben, der in Japan schon millionenfach verkauft worden ist, zeigt allerdings, dass es auch Gefühle der Unterauslastung gibt. Oder es steckt die Sehnsucht dahinter, das Gehirn sei keine Maschine, sondern ein Muskel, der wächst, wenn man ihn belastet. Kawashima, der an der Universität Tohoku als Neurowissenschaftler arbeitet, hat mit seinen Übungen dem Spielkonsolenmarkt die Älteren erschlossen. Aber auch an einigen schottischen Grundschulen wird aufgrund einer Versuchsreihe in Dundee jetzt vor dem Unterricht zwanzig Minuten lang mit den Kindern Gehirn-Jogging gespielt. Es soll angeblich die Konzentration und die Schnelligkeit beim Rechnen fördern.
Wie dem auch sei – im Hintergrund der rhetorischen Frage, ob Muskel oder Maschine die bessere Metapher für das Gehirn ist, steht die wissenschaftliche nach dem Umfang, in dem Mathematik neuronal beziehungsweise kulturell unterstützt wird. Auf eine erste Tatsache führt dabei die denkbar einfache Frage „Können Sie 264 durch 6 teilen?“. Selbstverständlich können Sie das, vielleicht nicht im Kopf, aber auf dem Papier sollte es nicht schwierig sein. Ein Kaufmann aus Nürnberg oder Amsterdam um 1450 aber hätte viel um diese Fähigkeit gegeben, man schickte damals seine Söhne nach Italien, um so etwas zu lernen. Weshalb? Nun, teilen Sie doch einmal CCLIV durch VI, ohne die Zahlen in unsere Anschreibung zu übersetzen. Rechnenkönnen ist eine Frage des Umgangs mit Wahrnehmungen und Vorstellungen. Das römische Zahlzeichensystem, das damals noch dominierte, erinnert an eine Zeit, in der die ersten Zahlen noch Kerben auf einem Stock waren: I, II, III. Aber, so der französische Kognitionsforscher Stanislas Dehaene, bei IV springt die römische Schreibweise ins Unanschauliche um. Die Etrusker schrieben für „4“ noch IIII. Spätestens bei 5 jedoch werden alle Zahlenschriften, die chinesische so gut wie die indische und die der Maya, abstrakt.
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