Hafenlichter by Eisel Jens

Hafenlichter by Eisel Jens

Autor:Eisel, Jens
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2014-04-24T16:00:00+00:00


Der Alte

Karl stand am Fischmarkt und blickte über den Fluss. Im Trockendock gegenüber lag ein Kreuzfahrtschiff – keins von den ganz großen, aber dennoch war es beachtlich. Es war warm, es dämmerte, und die Lichter der Docks brannten schon. Auch das Schiff war hell erleuchtet, gedämpft drang das Hämmern und Schleifen zu ihm herüber. Die Arbeiter wirkten von hier aus klein, ihre Bewegungen waren kaum zu erkennen. Gerne hätte er sich auf dem Schiff einmal umgesehen, wäre durch die Gänge zu den Kabinen gelaufen oder hätte vom Deck aus hinüber zum Fischmarkt gesehen. Dorthin, wo er jetzt stand, dorthin, wo er täglich seine Arbeit begann.

Er zog an seiner Zigarette und warf sie in die Elbe. Ein letztes Mal sah er zum Schiff hinüber. Es war jetzt fast dunkel, und die Hafenkräne im Hintergrund waren kaum noch zu erkennen.

Er hatte den Einkaufswagen an eine Laterne gekettet. Früher hatte er ihn einfach so abgestellt, aber er war ihm ein paarmal abhandengekommen, und dann hatte er die Idee mit dem Fahrradschloss gehabt.

Die erste Station, die er ansteuerte, war ein kleines Haus in der Hafenstraße, direkt unterhalb einer Brücke. Um diese Uhrzeit war dort meistens noch nicht viel los, aber später würde sich das ändern. Aus der offenen Tür drang Musik, und auf der Treppe, die hinauf zu dem kleinen Park mit den Metallpalmen führte, saßen ein paar Jugendliche. Sie schienen ihn nicht zu bemerken, als er drei Flaschen, die neben einer Mauer standen, in den Wagen legte. In einem Papierkorb an einer Bushaltestelle fand er eine weitere Flasche.

Er hatte eine feste Route: Hafenstraße, Helgoländer Allee, Seewartenstraße, Bernhard-Nocht-Straße, Pinnasberg, Pepermölenbek und dann wieder von vorn. Unter der Woche musste er die Runde manchmal vier- oder fünfmal machen, um den Wagen vollzukriegen, aber am Wochenende reichte oft schon eine Tour. Die Reeperbahn mied er, auch wenn dort am meisten zu holen war; die Reviere waren fest abgesteckt, und auf der Reeperbahn bekam man leicht Probleme. Einmal hatte ihm so ein junger Kerl eine gelangt, als er eine Flasche von einer Treppe am Hans-Albers-Platz aufgehoben hatte.

»Verpiss dich, du Penner«, hatte ihm der Kerl nachgerufen, und als er am nächsten Tag aufwachte, war sein Auge geschwollen.

Die Flaschen im Wagen klirrten, als er am Tropeninstitut vorbeilief. Es war seine dritte Runde, und es war schon einiges zusammengekommen. Er stieg die paar Stufen hinauf zu dem Mülleimer, aber der war leer, und als er wieder hinunterging, sah er zu den Gebäuden hinüber. In den großen Fensterscheiben spiegelten sich Lichter. Früher hatte hier die Brauerei gestanden. Karl dachte an die Bierkisten, die sich auf dem Hof getürmt und die Mauer überragt hatten. Er hatte sein ganzes Leben hier verbracht, und auch wenn er oft weg gewesen war, war er immer wieder hierher zurückgekehrt – sein Heimathafen eben. Aber seit einer Weile fühlte er sich fremd hier, und das, obwohl er die Stadt schon lange nicht mehr verlassen hatte.

Er sah die Leuchtreklame schon von Weitem – Zum glühenden Anker war über dem Eingang zu lesen. Eine der Neonröhren war kaputt und flackerte.



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