Guten Morgen, Petra by Lise Gast

Guten Morgen, Petra by Lise Gast

Autor:Lise Gast [Gast, Lise]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Saga
veröffentlicht: 2016-06-05T00:00:00+00:00


Das war also Straßburg. Petra hatte mit einem plötzlichen Entschluß ihre Reise unterbrochen, war ausgestiegen und zu Fuß zum Münster gegangen, und nun stand sie vor dem Westportal und sah hinauf. Hinter ihr brauste der Verkehr einer modernen Großstadt, der auch durch die engen Gassen pulsierte, bis hier heran, und vor ihr erhob sich, schweigend und merkwürdig unirdisch, die Westfassade mit den drei Portalen und der Rose darüber. Es benahm ihr den Atem.

Natürlich hatte sie sich zu Hause Bilder vom Straßburger Münster angesehen, gelegentlich, immerhin so genau, daß der Wunsch in ihr entstand: Das möchtest du mal in Wirklichkeit sehen. Daß es aber so war, so ...

Sie versuchte, sich nicht in Einzelheiten zu verlieren, merkte aber, daß Einzelheiten hier sehr wichtig und von unvorstellbarer Vollendung waren. Hier ein Prophetenkopf, gelassen und klug, da eine Madonna mit sanftem Gesicht, das nackte Kind auf dem Arm, darüber die Passionsgeschichte mit sehr profilierten Gesichtern. Immer wieder zog es ihren Blick aufwärts, höher und höher, wie es einem bei gotischen Bauwerken nun einmal geht, bis zur Spitze des Turmes, dem Turmhelm, den man hier den Münsterzipfel nannte. An einen solchen Bau muß man sich erst gewöhnen, um auch nur einen Teil davon zu erfassen.

Natürlich hätte sie sich vorbereiten müssen, richtig, eingehend. Wie aber sollte das wohl möglich sein, bei dem lauten Hin und Her zu Hause? Sie hätte Vorträge mit Lichtbildern besuchen und alles genau kennenlernen müssen, ehe sie losfuhr, sie merkte es genau und mit einer tiefen Beschämung. Mindestens auf der Fahrt hätte sie eine Beschreibung des Münsters genau lesen, ja, durcharbeiten müssen – mit einem raschen Entschluß drehte sie sich um. Gab es nicht hier in der Nähe einen Zeitungsstand oder eine Buchhandlung, wo man so etwas kaufen und dann ordentlich durchsehen konnte, ehe man sich hineinwagte? Noch war Zeit.

Ihr wurde ein bißchen besser bei diesem Gedanken. Einmal in Ulm, vor Jahren, hatte sie auch, innerlich wie ausgeliefert, vorm Münster gestanden, da geschah ihr ein freundliches Wunder: Ein alter Herr sprach sie an, fragte sie nach der Zeit und kam dann mit ihr ins Gespräch. Als er merkte, daß sie noch nicht im Münster gewesen war, ging er noch einmal mit ihr hinein. Und was sie nun erlebte, war wirklich wunderbar. Er kannte alles und wies sie darauf hin, unaufdringlich und selbst sprühend begeistert – sie folgte ihm und staunte und sah – und merkte, wie sehr man sehen lernen kann.

Hier aber stand sie allein, und sie hatte das deutliche Gefühl, es nicht zu verdienen, daß sich wiederum jemand finden sollte, der sich um sie bemühte. Hier mußte sie also selbst handeln, und so übersprang sie eine innere Hürde und trat in eine Buchhandlung.

„Est-ce que vous avez –“

„Ja, wir haben eine Beschreibung des Münsters“, antwortete die junge Verkäuferin sehr freundlich, und dann legte sie Petra mehrere Bändchen zur Auswahl vor, riet zu, erklärte – Petra zog sehr erleichtert mit dem ausführlichsten ab. Sie begab sich, nun schon merklich ermutigt, in eine nahe Eisdiele, deren Tische nicht sehr besetzt waren, wie man durch die Glasscheibe sah.



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