Geschichte der Vlkerwanderung by Mischa Meier;
Autor:Mischa Meier;
Format: epub
Tags: Vor- und Frühgeschichte, Antike
ISBN: 9783406739606
Herausgeber: Verlag C.H. Beck
veröffentlicht: 2019-09-19T00:00:00+00:00
10.4
Labile Herrschaft im zweiten Anlauf: Das westgotische Spanien
Die Partikularisierung des lateinischen Westens seit der ausgehenden Spätantike hat vielerlei Gesichter â eines davon präsentiert sich in der neuerlichen Reichsbildung der Westgoten nach ihrer verheerenden Niederlage und dem Tod ihres Königs, des Eurich-Sohnes Alarich II., in der Schlacht bei Vouillé gegen Chlodwigs Franken (507). Hatten die Westgoten, wie gesehen, schon während des 5. Jahrhunderts ein wachsendes Interesse an der Pyrenäenhalbinsel gezeigt, so sollte dieses Randgebiet der antiken Oikoumene im 6. Jahrhundert die Basis für einen Restabilisierungsprozess eröffnen, der ein weiteres poströmisches regnum hervorbrachte, das sich bis in das frühe 8. Jahrhundert zu halten vermochte. Zum Kern des toledanisch-westgotischen Pudels vorzudringen fällt allerdings schwer; denn die erzählenden Quellen lassen uns weitgehend im Stich. Bereits die ersten Jahrzehnte westgotischer Präsenz in Spanien (507â548) bleiben groÃenteils im Dunkel, nur sehr punktuell reflektiert im Geschichtswerk Gregors von Tours (â 594), wenigen Andeutungen in Prokops Kriegsgeschichte und einigen Hinweisen in den Texten des wichtigsten Gelehrten, den die Reichsbildung auf der Iberischen Halbinsel hervorgebracht hat: Isidor von Sevilla (â 636). Seine historiographischen Werke, die Historia Gothorum, Vandalorum, Suevorum (kurz: Gotengeschichte) und die Chronik, werden für die Jahre 567 bis 590 ergänzt durch die Chronik des Johannes von Biclaro, die um die Wende zum 7. Jahrhundert entstand â all dies freilich Texte, die gerade die Frühzeit bereits aus der Perspektive des unter Leovigild (569â586) konsolidierten Reiches dokumentieren. In den späteren 670er Jahren verfasste schlieÃlich Bischof Julian von Toledo seine Historia Wambae (Geschichte des Königs Wamba), doch vermögen weder dieses Werk noch die hagiographischen Vitas Sanctorum Patrum Emeretensium mit lokalem Fokus auf Mérida darüber hinwegzutäuschen, dass für das nachisidorische 7. Jahrhundert â wie denn für das Toledanische Reich insgesamt â kein zeitgenössisches historiographisches Narrativ vorliegt und dass das wenige erhaltene Material unsere Perspektive möglicherweise fatal verschiebt und verzerrt; so besitzen wir etwa kaum Informationen über die Herrschaft Athanagilds (555â567) oder die späteren Jahre Rekkareds I. (586â601). Konzilienbeschlüsse und Gesetzestexte vermögen diese Lücken nur partiell zu schlieÃen, und auch der archäologische Befund bleibt ohne entsprechende Einbettungen schwer zu beurteilen. Einzelne westgotische Herrscher bzw. Prätendenten â Iudila (in der Baetica in den frühen 630er Jahren) und Suniefred (wohl spätes 7. Jahrhundert) â sind gar ausschlieÃlich durch punktuelle Münzfunde belegt.[83]
Dennoch lässt sich als prinzipielles Strukturproblem des spanischen regnum die Labilität des Königtums identifizieren, die lediglich den sichtbarsten Ausdruck verschiedener Spannungsfelder darstellt, welche das Westgotenreich in seiner 200-jährigen Geschichte formten und prägten. Schon Zeitgenossen haben in den permanenten Königsmorden das eigentliche Proprium der Reichsbildung ausgemacht und dieses in das Bild der «Gotenkrankheit» (morbus Gothorum) gekleidet. Die grundsätzlich schwache, vielfach angreifbare Position der toledanisch-westgotischen Könige steht auch in der modernen Literatur kaum zur Diskussion, lieà sie sich doch stets leicht auf das Aussterben der Balthen-Dynastie mit dem Tod Amalarichs (531) zurückführen. Diese Erklärung trägt allerdings nur dann, wenn man bereit ist, die Mystifizierung der Balthen, wie sie uns vornehmlich bei Jordanes entgegentritt, klaglos zu akzeptieren. Vieles spricht jedoch dafür, dass es sich bei Jordanesâ Balthen-Genealogie vor allem um eines handelte: ein Konstrukt, das den Westgoten eine den
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