Gesammelte Werke Joseph Conrads (German Edition) by Joseph Conrad

Gesammelte Werke Joseph Conrads (German Edition) by Joseph Conrad

Autor:Joseph Conrad [Conrad, Joseph]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783733905927
veröffentlicht: 2014-04-09T22:00:00+00:00


Zweiter Teil

1

Im Verlauf einer erfundenen Erzählung müssen zweifellos gewisse Eigentümlichkeiten beachtet werden, um die Klarheit und Wirkung zu verstärken. Ein Mann von Einbildungskraft, und sei er noch so unerfahren in der Erzählungskunst, wird sich von seinem Instinkt bei der Wahl der Worte und bei der Entwicklung der Handlung leiten lassen können. Ein Funke Talent entschuldigt viele Fehler. Doch dies ist kein Werk der Einbildungskraft; ich habe kein Talent. Meine Entschuldigung für dieses Unternehmen liegt nicht in seiner Kunst, sondern in seiner Kunstlosigkeit. Ich bin mir meiner Grenzen wohl bewußt, halte an meiner innerlichen Absicht fest und würde nie versuchen (selbst wenn ich dazu imstande wäre), irgend etwas zu erfinden. Meine Bedenken gehen so weit, daß ich nicht einmal einen Übergang erfinden wollte.

So lasse ich also Rasumoffs Erinnerungen an dem Punkt abbrechen, wo Rat Mikulins Frage »Wohin?« sich mit der Gewalt eines unlösbaren Problems aufdrängt, und stelle ganz einfach fest, daß ich die Bekanntschaft der beiden Damen ungefähr sechs Monate vorher gemacht hatte. Mit den »beiden Damen« meine ich natürlich die Mutter und die Schwester des unglücklichen Haldin.

Durch was für Vorstellungen er seine Mutter dazu gebracht hatte, ihr kleines Gut zu verkaufen und für unbestimmte Zeit außer Landes zu gehen, kann ich nicht genau angeben. Ich glaube nur, daß Frau Haldin auf den Wunsch ihres Sohnes ihr Haus auch angezündet hätte und nach dem Monde ausgewandert wäre, ohne irgendein Zeichen von Überraschung oder Bestürzung, und daß Fräulein Haldin – Natalie, mit dem Kosenamen Natalka – ihre Einwilligung dazu gegeben hätte.

Ihre zärtliche stolze Ergebenheit für den jungen Mann wurde mir nach sehr kurzer Zeit klar. Seinem Wunsche entsprechend, fuhren sie ohne Aufenthalt nach der Schweiz – nach Zürich – und blieben da ziemlich ein Jahr. Von Zürich aus, das ihnen nicht gefiel, kamen sie nach Genf. Einer meiner Freunde in Lausanne, der an der Universität Geschichte las (er hatte eine Russin geheiratet, eine entfernte Verwandte von Frau Haldin), forderte mich brieflich auf, den Damen einen Besuch zu machen. Es war ein sehr gut gemeinter, geschäftlicher Rat. Fräulein Haldin wünschte mit einem tüchtigen Lehrer die besten englischen Autoren durchzunehmen.

Frau Haldin empfing mich überaus freundlich. Ihr schlechtes Französisch, über das sie selbst lächelte, ließ gleich bei der ersten Unterredung keine Förmlichkeit aufkommen. Sie war eine schlanke Frau in schwarzem Seidenkleid; hochgeschwungene Brauen, regelmäßige Züge und fein geschnittene Lippen zeugten von ihrer früheren Schönheit. Sie saß gerade aufgerichtet in einem Armstuhl und erzählte mir mit ziemlich leiser, freundlicher Stimme, daß der Wissensdurst ihrer Natalka einfach unersättlich sei. Ihre mageren Hände hielt sie im Schoß, und die Unbeweglichkeit ihres Gesichtes gab ihr etwas fast Mönchisches. In Rußland, fuhr sie fort, sei alles Wissen mit Lüge durchsetzt. »Nicht Chemie und die ähnlichen Fächer, sondern die Erziehung im allgemeinen«, erklärte sie. Die Regierung fälsche den Lehrplan zugunsten ihrer eigenen Zwecke. Ihre beiden Kinder hätten das erfahren müssen. Ihre Natalka habe eine höhere Töchterschule absolviert, und ihr Sohn sei Student an der Petersburger Universität. Er sei äußerst intelligent, dabei vornehm und selbstlos von Charakter, und seine Kameraden hingen blind an ihm.



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